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  Titel Entwurf eines Waschzettels


Wissen Sie, was ein Waschzettel ist? Das hier ist ein Waschzettel. Sie können damit Ihre Brille putzen, daß es Ihnen wie Schuppen…

Sehen Sie in den Klecksographien des Rorschach-Tests gern Schmetterlinge? Manchmal aber auch nicht? Oder gar nie? Was sehen Sie dann?

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß bedeutende Männer auf Denkmälern gern ein Buch in der Hand halten? Sie lesen es nicht, sie schreiben nicht, aber sie haben einen Finger der abgesunkenen Hand im zugeschlagenen Buch und sehen ins Weite. Georg Groddeck sagt, Lesen und Schreiben sei eine unbewußte Beschäftigung mit Weiblichkeit.

Wissen Sie, daß Amor gern mit Spatzenflügeln dargestellt wird, Psyche, seine Geliebte, aber mit Schmetterlingsflügeln? Psyche heißt griechisch sowohl die Seele als auch der Schmetterling. Psychiden, Sackträger, sind eine Gattung der Kleinschmetterlinge. Eine Art heißt Psyche unicolor, schwarzgrau, mit köcherbildenden Raupen. Das ist der Seelenfalter. Man hat sich die Seelen der Verstorbenen als Falter vorgestellt, die sich nachts über den Rahm der Milch hermachen. Daher der Name butterfly, Schmanterling, Schmetterling.

Als Demeter um ihre von Hades entführte Tochter Persephone trauerte, wurde sie in Eleusis durch die obszöne Geste einer Magd zum Lachen gebracht. Diese Magd hieß Jambe. Sie hatte wohl wie die Baubo ihre Beine (französisch jambes) geöffnet und ihr Geschlecht ausgestellt.

Die jambische Poesie der Jambographen Archilochos, Semonides und Hipponax geht auf jambische Spottverse des Demeter- und Dionysos-Kults in Eleusis zurück. Archilochos hat das Geschlecht der Frau »Nachtigalljunges« genannt. Melos heißt das Lied und das Glied. Die Nachtigall ist für Boccaccio das beschwingte, das »schlagende« Glied.

Aphrodite liebt das Lachen und die Schamteile, schreibt Hesiod in seiner Theogonie, weil sie aus dem Schaum der Schamteile des entmannten Himmels (Uranos) entstanden ist. Venus erkennt man an ihrem Spiegel. Der große französische Toilettenspiegel aus dem Second Empire wird heute noch psyché genannt. Dieser Name hat sich – deutsch ausgesprochen – auch in Österreich und in der ganzen ehemaligen Donaumonarchie erhalten. Die Hausfrau fragt das Dienstmädchen: Hast du die Psyche schon geputzt?

Auf einer der berühmten Tapisserien des Hôtel de Cluny in Paris hält die Dame dem Einhorn ihren Venusspiegel hin. Das Tier sieht nur sein Gesicht. Das Horn scheint schon im Abgrund des Spiegels verschwunden zu sein.

Der Warmbronner Dichter und Kleinbauer Christian Wagner hat Hermann Hesse 1912 sein Gedicht Oberer Anlagensee in Stuttgart geschickt. Das beginnt mit den Zeilen »Ein Träumender komm ich des Wegs gegangen, / Phalänen sich in meinem Haar verfangen.« Als Hesse dann für den »Frauenbund zur Ehrung rheinischer Schriftsteller« eine bearbeitete Auswahl der Gedichte Wagners herausbrachte, hat er ein Gedicht An die Nacht aufgenommen und darin folgende Zeilen weggelassen: »Nicht wie du lockst nach deren Purpurkähnen / Zu süßem Liebesdienste die Phalänen.« (»deren« bezieht sich auf die zuvor genannten »Orchistöchter« und »Nachtviolen«.) In Oswald und Klara läßt Christian Wagner ein drittes Mal das seltene griechische Wort fliegen: »Falter sind wir, riesige Phalänen, / Hurtig geht die Reis' auf unsern Kähnen.« – Phallaina heißt griechisch ein Schmetterling, eine Lichtmotte. Das Wort ist eine phallische Anspielung. Der geflügelte Phallus ist eine geläufige Vorstellung antiker Kulte.

Die Pupille heißt auf griechisch Kore, Jungfrau. Im Auge der Geliebten sieht sich ihr Schüler (englisch pupil) als Puppe gespiegelt. Durch die Pupille dringt das Püppchen ein in das Auge der Jungfrau. Kennen Sie das Bärenauge? Jenseits des Lustprinzips begatten sich die Anschauungen, die Worte und Gedanken.

Auch der Blankvers, der abgeleyerte fünffüßige Jambus hat – wie der deutsche Alexandriner oder der griechische Pentameter – einen geheimen Spalt, eine Zäsur. Er ist zweischenklig, hinkt nach dem zweiten oder dritten Glied.

Clemens, der Freund meines Sohnes Jakob in München, überrascht mich, als ich ihm den Lichtarsch in meiner Kaffeetasse zeige, mit dem ordinären Wort Schwanzkäse. – Wie bitte? – »Schwanzkäse!« – Er hatte nicht Hintern, nicht Busen, nicht Herz, Apfel, Schwalbe oder Hoden in der katakaustischen Brennlinie gesehen, nicht das in Delphi offenbarte apollinische Epsilon, nicht die 3, weder Omega noch My, sondern seine eigene (oder seines Freundes?) Eichel. Da fiel es mir wie Schuppen… von der Eichel: Hatte nicht Ezra Pound im Canto CXVI gefragt: »Can you enter the great acorn of light?« – »Kannst du die große Lichteichel betreten?«

Und was hat das alles mit meinen Gedichten zu tun? Das frage ich mich auch.



PS:
Hermann Hesse, der dem Christian Wagner das Wort »Phaläne« unterschlagen bzw. rauszensiert hat, treibt in seinem 1919 erschienenen Roman Demian einen besonderen Kult mit dem gnostischen Gott Abraxas. Abraxas wird auf erhaltenen Amuletten vogelköpfig dargestellt mit gespaltenem Unterleib wie eine Meerjungfrau. Er stellte das Gute und das Böse zugleich dar.

Vor Goethes Augen hat sich ein Stachelbeerspanner entpuppt. Noch erregt von diesem Erlebnis schickt er Schiller seine Beschreibung vom 30. Juli 1796. Wie sich nämlich nach dem Einschießen einer Flüssigkeit ins Geäder der Schmetterlingsflügel diese erheblich vergrößert haben. Dieser Schmetterling hieß damals Phalaena grossularia. Sein heutiger Name ist Abraxas grossularia. Phalänen sind in Frankreich einfach die Nachtfalter.