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Titel Michael Buselmeier und Arnfrid Astel, Vollersroda


Michael Buselmeier


Vollersroda


Krumme Dorfstraße, an Lattenzäunen vorbei,
zwischen grellen Feldern Schrei eines Huhns.
Junge Pioniere unter schnellen Wolken. Die Führerin
wendet sich um: Sonne hier, dort dunkelt das Korn.
Wie eine staubige Kastanienallee im Mittag
der Wirtshaussaal. Über dem Tresen flackert die Röhre.
Matt glänzen die Zapfhähne, der eingefettete
Holzboden, zwölf gedeckte Plastiktische.
Die kleine Bühne, mit Fahnenrot gerahmt.
Der Vorhang. Gleich werden die Pioniere auftreten.
Ganz still. Jetzt kenn ich ihn wieder, den Geruch
der Wirtshaussäle, in denen ich eine Kindheit lang
auf das Schwingen der Tür lauschte. Spüre den Luftzug,
das Schleifen beim Aufgehen des Vorhangs.


(aus: Auf, auf, Lenau! Gedichte, Essen: Rigodon 1986)


Arnfrid Astel

Was nicht vorkommt


War Michael Buselmeier auf Feiningers Spuren unterwegs? Ist er Goethe nachgeritten? Kann sein. Aber aus Vollersroda hat er ein Gedicht mitgebracht, in dem die beiden nicht vorkommen. Stattdessen die krumme Dorfstraße, Lattenzäune, junge Pioniere mit einem weiblichen Führer. Auch der Schrei eines Huhns kam nicht von einem Hahn oder Turmhahn, sondern vom erfolgreichen Gackern einer fleißigen Legehenne im Arbeiter- und Bauernstaat. Oder doch von einem Fasan, unsichtbar hinter Lattenzäunen zwischen grellen Feldern?

Die jungen Pioniere waren eine Art Lattenzaun, der Westdeutschen den freien Blick auf das Land und die Landschaft verstellte. Lattenzäune sind für mich eine Kindheitserinnerung an Thüringen, das Grüne Herz Deutschlands: halbierte Stämmchen junger Bäume, parallel aufgenagelt auf zwei etwas stämmigere Querbalken, braun gebeizt, ebenfalls halbiert. Als Pimpf habe ich dort meine Schulhefte vergraben, aus Angst vor meinem Vater.

Dann kommt der kühne Vergleich des Wirtshaussaals mit einer staubigen Kastanienallee am Mittag. Dort über dem Tresen flackert offenbar eine marode Neonröhre. Matt glänzende Zapfhähne, der eingefettete Holzboden, gedeckte Plastiktische. (Zwölf, spielt das auf die Zahl der weiblichen Jünger der Führerin an?) Auf der kleinen Bühne werden gleich die Pioniere auftreten.

Aber für Buselmeier eröffnet sich eine ganz andere Bühne. Der Geruch erinnert ihn an das Kind, das eine Kindheit lang auf das Rauschen der Schwingtür lauschte. Es spürt den Luftzug, das Schleifen beim Aufgehen des Vorhangs, und auf der Bühne erscheint seine berufstätige Mutter, die ihn in dem Wirtshaussaal abgestellt hat. Sie bleibt im Gedicht unsichtbar, wie Goethe und Feininger.