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Titel Arnfrid Astel, 'Da mache ich einen Satz...'


NOTSTAND

Notstand, das ist laut Brockhaus
ein fester Stand, in dem
besonders widersetzliche Pferde
und Rinder zum Hufbeschlag,
zur tierärztlichen Untersuchung
oder zur Durchführung kleinerer
Operationen befestigt werden.

So lautet das Titelgedicht meines ersten Gedichtbandes, der 1968 im Peter Hammer Verlag erschienen ist. Lektor war damals Ulf Miehe, Verlagsleiter Hermann Schulz. Der Peter Hammer Verlag ist als ein schöngeistiger Zweig des Jugenddienst Verlags entstanden, einer Gründung der Wuppertaler Schülerbibelkreise unter Johannes Rau, dem späteren Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Johannes Rau war also mein erster Verleger. Noch als Bundespräsident konnte er ein Epigramm aus diesem Buch auswendig:

DER FÜHRER

Er hatte etwas Besonderes.
Er trug seinen Scheitel rechts.
Deshalb sahen wir alle
unser Spiegelbild in ihm.
Der Jubel war grenzenlos.

Da er selbst seinen Scheitel rechts trug, aber mit dem »Führer« nichts am Hut hatte, war das für ihn eine peinliche Parallele, wie er mir lachend gestand.

Ich hatte bewußt den Titel »Notstand« gewählt. Es war die Zeit der Notstandsgesetzgebung. Im Brockhaus gab es tatsächlich Notstand 1 (den veterinärmedizinischen) und Notstand 2 (den politischen). In einer späteren Ausgabe stand dann nur noch der politische. Ob ich das bewirkt habe?

Widersprüche auf die Spitze treiben, das Verletzende zu einer Pointe machen, den Spieß also umdrehen!

Mein erstes Buch trägt ein Motto von Lichtenberg:

Er müßte vortrefflich kühlen, sagte ich,
und meinte den Satz des Widerspruchs,
ich hatte ihn ganz eßbar vor mir gesehen.

Lichtenbergs Sätze in seinen »Sudelbüchern«, das, was man seine Aphorismen nennt, sind für mich seine Epigramme, freirhythmische. Was er selbst als seine Epigramme bezeichnet hat, steht in metrisch-chauvinistischer Tradition seit der Antike. Den Akzent der freien Rede wollte ich in meine Texte einbringen, den vorliterarischen Affekt als gleichsam eßbare Inkarnation der Gegenstände.

EINHORNJAGD

Das Einhorn ist keusch.
Gabriel, der Verkündigungsengel,
pfeift seinen Jagdhunden.
Caritas, Fides und Spes
treiben das Fabeltier
in den Schoß der Jungfrau.
Es keucht an Maria.

Epigramme sind ja Aufschriften. Wenn sie von ihren Gegenständen isoliert werden, etwa in einem Buch, dann müssen Satz und Rhythmus das Bild substituieren.

Mein erstes Buch war nicht meine erste Veröffentlichung. 1959 hatte ich als Student in Heidelberg die »Lyrischen Hefte« gegründet, eine Zeitschrift für Gedichte. Sie stand 1968 schon im zehnten Jahrgang. Etliche später bekannt gewordene Autoren sind dort zuerst erschienen. Andere, nicht weniger Begabte, wie Katrine von Hutten, Andreas Rasp oder Griseldis Fleming, sind leider nicht bekannt geworden. Es gab Sonderhefte mit Gedichten von Quirinius Kuhlmann, Jewgenij Jewtuschenko, Jossif Brodskij (die erste deutsche Veröffentlichung!), Ho Tschi Minh u. a. Ich selbst hatte in meiner Zeitschrift unter dem Pseudonym Hanns Ramus veröffentlicht. 1968 war ich seit einem Jahr Literaturredakteur im Saarländischen Rundfunk.

»Notstand« enthält in fünf Kapiteln kirchenkritische, erotische, literaturkritische, dezidiert politische und zuletzt »beschauliche« Gedichte. Auf diese kam – und kommt – es mir eigentlich an. Alles andere, wie überhaupt das erste Buch in der Westentasche, hatte für mich mehr den Charakter einer kugelsicheren Weste, die den Dichter vor der sogenannten Welt schützt.

AUSFLUCHT

Ich werde verfolgt.
Da mache ich einen Satz
und entkomme.

DER Braten ist
ein Gedicht, sagst
du Gutgläubige.
Wäre doch mein
Gedicht ein Braten,
begehrt von dir.

Bis heute beschäftigt mich das Problem der Inkarnation vorsprachlicher Wahrnehmungen. Eßbare Gedichte wollte ich schreiben – so handgreiflich und eßbar, wie Lichtenberg den Satz des Widerspruchs vor sich gesehen hatte, eßbar und vortrefflich kühlend. Im Anfang war bei mir nicht das Wort, sondern umgekehrt, da sind die Dinge und die Widersprüche ihrer Wahrnehmung. Das Widersprechen kühlt schon die hitzige Empörung des Autors, aber die eigentliche Kühlung der poetischen Erregung, von der auch Sokrates (»Gänsehaut«), Kuhlmann (»Kühlpsalter«!) und Klopstock (»Die Sommernacht«) sprechen, ist das gelungene Gedicht, eine verbale Tröstung.

BLINDLINGS

Ein Gerät, mittels dessen
der Faden todsicher
ins Nadelöhr trifft,
das demonstriert
auf der Frankfurter Messe
ein Kriegsblinder,
ohne zu mogeln.

Den politischen Titel habe ich wie gesagt als Schild vor mich gehalten, mich geschützt durch öffentliches Widersprechen. Diesen Schutz brauchte ich für das »hinter dem Berg« angesiedelte Kapitel, für die empfindlicheren Gebilde innerer Widersprüche, das angeblich »Weltfremde« meiner Welt, der Natur.

ICH komme zu mir.
Da wäre ich gern.

ICH sitze am Fluß.
Abwärts fahren die Schiffe schneller.
Aufwärts seh ich sie länger.

Es fällt mir schwer, über meinen Erstling zu schreiben. Am liebsten würde ich jedes einzelne Epigramm zitieren. Was ich mir gedacht habe, sind die Gedichte, und was ich empfunden habe beim Erscheinen meines ersten Buches, war eine Art Glück. Weil ich nicht schreiben kann, weil mir Prosa zu banal ist, bin ich Dichter geworden. Das unlösbare Problem der Verwandlung vorsprachlicher Begeisterung oder Ergriffenheit in Sprache beschäftigt mich bis heute. Dieser Notstand ist ein Notstand geblieben. Der Stein des Sisyphos rollt weiter.

Inzwischen sind zwölf Gedichtbände erschienen. Der nicht schreiben konnte, ist in seinen Rundfunksendungen ein Redender geworden. Auch solche Reden sind inzwischen in einem Buch dokumentiert.