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Titel Klaus Behringer, Lobrede auf Arnfrid Astel


Lieber Arnfrid, liebe Veranstalter, liebe Gäste, Sie kennen ja sicher die Jury-Begründung schon aus der Pressemitteilung. Und deshalb muß ich es nicht mehr so ganz ausführlich machen. Im Wesentlichen haben wir von drei Gründen gesprochen, weshalb wir Arnfrid Astel den Gustav-Regler-Preis verleihen wollen.

Einmal ist das die Lyrik, das sind diese über dreitausend Kurzgedichte und Epigramme, die sich einerseits mit den angreifbaren Verhältnissen, den angreifbaren Gegenständen und Zuständen in der Bundesrepublik beschäftigt haben, vor allem in den siebziger Jahren – also Stichwort damals zum Beispiel Strafzettel für den Rechtsstaat, ja, das sagt es eigentlich im Kurzen – und andererseits aber auch biologische Mythen immer wieder aufgegriffen haben, bei der Sprachwurzel gepackt und an ihren Rhizomen bis heute in ihrem Verlauf in die Gegenwart verfolgt.

Das zweite ist im Wesentlichen seine Herausgebertätigkeit, einmal für die Lyrischen Hefte, eine Literaturzeitschrift, für die EINZELHEITEN, das war auch eine. Und insbesondere natürlich – Herr Johannsen hat das vorhin schon ausführlich erwähnt – seine Arbeit als Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk, wo er, ich glaube 31 Jahre lang, Gespräche und Sendungen mit Autoren gemacht hat.

Der dritte Punkt ist die Mäeutik. Ich will das besonders erwähnen, weil es auch mit mir selbst irgendwie zu tun hat oder ich damit zu tun bekam, nämlich sein literaturdidaktisches Seminar »Selber schreiben und reden«. Der ganze Titel lautete: »Selber schreiben und reden. Einhornjagd und Grillenfang. Anfertigen und Vorzeigen kurzer Texte auf Gegenstände und angreifbare Zustände im Kopf und außerhalb«. Seminar an der Universität des Saarlandes. Und man hört es dem Titel auch ein bißchen an, es ist aus einer Zeit, aus den siebziger Jahren auch, wo man sozusagen noch ein ganzes Manifest gleich im Titel untergebracht hat am liebsten. Und er hat in diesem Seminar natürlich ganz viele Studenten zum Schreiben verleitet, aber auch angeleitet, wie es in der Jury-Begründung heißt.

Das ist jetzt alles gut und richtig und sehr ehrenwert und reicht eigentlich mehrfach für einen Lorbeerkranz aus. Arnfrid Astel ist ein würdiger Gustav-Regler-Preisträger. Die Begründung kommt aber sozusagen in ihrer pressemitteilungshaften Knappheit ein bißchen unanschaulich daher, und deswegen würde ich sie ganz gerne noch um zwei, ja, persönliche Gründe ergänzen, und die ein bißchen mehr ausführen.

Im Grunde, ja, wäre ich ehrlicherweise auch an einer Demontage interessiert oder Dekonstruktion. Ich gebe zu, ich bin selbst nämlich in dieser »Saarbrücker Schule«, in der sogenannten, aufgewachsen, in diesem Universitätsseminar. Und man muß sich ja mit der Zeit irgendwie auch mal emanzipieren von seinen großen Vorbildern, Arnfrid Astel, sonst arbeitet man sich ständig an den Übervätern ab, ja? Und ich hab natürlich auch im Laufe dieser Zeit lange und immer wieder Kritik geübt, natürlich. Manchmal aus purer Opposition, manchmal auch sachlich begründet, Kritik zum Beispiel an Arnfrid Astels Erkenntnismethoden. Das will ich ihm jetzt aber heute alles nicht entgegenhalten, sondern mich – (Zwischenruf Arnfrid Astel) schade? (Lachen) Ja, vielleicht am Schluß noch, oder? Nee, am Schluß nicht mehr. Ja, also ich möchte natürlich, weil’s ja eine Lobrede werden soll, Arnfrid, das sagen, was mich immer begeistert hat, ja? und was ich auch versucht habe, von dir zu lernen. Zwei Dinge.

Mein Vortrag heißt: Delphinreiter und Falterblick. Hans Arnfrid Astel oder Von der Haltbarkeit der Mythen.

Angela Fitz, Ralf Peter und ich haben mal, vor jetzt auch schon fast 20 Jahren, eine Dokumentation über dieses Seminar »Selber schreiben und reden« gemacht, diese Dokumentation hieß Einhornjagd und Grillenfang. Und dazu haben wir ein langes Gespräch mit dir geführt und gleich am Anfang diese eigentlich verpönte Gretchenfrage gestellt, die eigentlich so aus der ersten Woche Praktikum Kulturjournalismus stammt: Wie bist du zum Schreiben gekommen? War natürlich ne ironische Frage, ja? Aber er hat vollkommen ernsthaft geantwortet, ganz überraschend. Er hat gesagt: Durch eine Lebenslüge. Verantwortlich war also für den Anfang eine Lebenslüge, und ein Päderast.

Ich will das erklären. Im Internat von Windsbach, das ist dieses Internat in Franken mit diesem Knabenchor von Weltgeltung – Arnfrid Astel hat übrigens auch mal gesungen in diesem Knabenchor, als er nämlich Schüler in diesem Internat war –, und es gab dort einen Lehrer, der, ja, ein bißchen pädophil war, ein Päderast. Kaum älter eigentlich, also auch noch ein recht junger Lehrer. Er hat aber Gefallen gefunden an dem jungen Arnfrid Astel. Arnfrid wußte, daß dieser Lehrer gerne liest und auch selber ein bißchen Lyrik schreibt. Und um gewissermaßen diese Zuneigung irgendwie zu erhalten und nicht abreißen zu lassen, hat Arnfrid ihm vorgeschwindelt, daß er Gedichte schreibt. Ja, dann mußte er es natürlich irgendwann mal machen, denn man muß ja, sagt Arnfrid immer, beim Lügen, beim Schwindeln, konsequent und ehrlich bleiben. Sonst fliegt der Schwindel irgendwann auf. Arnfrid Astel hat angefangen, tatsächlich Gedichte zu schreiben und ist dabei geblieben. Und diese Lebenslüge, zu der sich das dann ausgewachsen hat, ist, finde ich, ein großer Glücksfall für die Literatur geworden, ja? Beruhend auf einem erotischen Prinzip.

Und das war das Wichtigste, was ich gelernt habe in diesem Universitätsseminar, was ich begriffen habe in meiner Zeit in der Saarbrücker Schule, das erotische Prinzip. Man lernt nichts von jemandem, den man eigentlich nicht liebt. Man kann auch niemanden etwas lehren, es sei denn, man liebt ihn ein wenig. Das ist sozusagen die intersubjektive – naja, intersubjektiv ist falsch, vielleicht der Sozialaspekt sozusagen dieser intellektuellen Erotik. Es gibt noch andere Aspekte. Erotik hat ja viel mit Beweglichkeit und Attraktion zu tun. Es gibt auch eine Erotik in Bezug auf die Sache, auf die Gegenstände. Und auch eine Erotik in Bezug auf ein Substitut, auf einen Ersatz für die Gegenstände. Zum Beispiel auf die Literatur, auf die Kunst. Und der Moment der Wahrnehmung, der Erkenntnismoment, ist ein erotischer Moment. Arnfrids Aufgabe ist nun immer gewesen, diesen Moment, diesen erotischen Erkenntnismoment am Schopf zu packen und festzuhalten.

Die Gelegenheit am Schopf packen, ja? Kairos, den Gott des günstigen Augenblicks bei den alten Griechen, den haben die Griechen als Jüngling dargestellt, als Sportler, als nackten Läufer. Der also auf einen so zurennt und dann an einem vorbei, ziemlich schnell, und immer in Bewegung ist. Er trägt vorne einen prächtigen Haarschopf, wie ich, ja? und da kann man ihn eigentlich ganz gut packen. Aber nur, solange er auf einen zurennt. Hinten hat er nämlich eine Glatze. (Zwischenruf Arnfrid Astel) Ja, (Lachen) mich kann man also auch noch packen, wenn ich vorbei bin. Aber den Kairos, den eigentlichen günstigen Moment, den Augenblick des Ereignisses, wenn der vorbei ist, ist es aus. Man muß warten, bis er wiederkommt. Ja, also der Kairos als Augenblick des Ereignisses, als Gegenwart, als Moment, in dem man intensiv lebt. Den zu transportieren, ihn irgendwie sprechbar zu machen, ihn auf die Weise auch zu konservieren, das wäre die Aufgabe der Literatur.

Er ist nicht besonders gut haltbar, dieser Moment. Man kann ihn auch nicht über weite Strecken gut transportieren. Es ist so dieser erotische, Goethesche Verweile-doch-du-bist-so-schön-Augenblick. In diesen Erkenntnismomenten redet man wahrscheinlich auch gar nicht. Es könnte natürlich sein, daß die Erkenntnis beim Reden entsteht, oder im Gespräch.

Ich weiß jetzt nicht, ob in meiner Rede hier irgendeine Erkenntnis entsteht. Es spricht eigentlich einiges dagegen. Zum Beispiel diese Situation hier, die Rampe, das Mikrophon, ich hab im Grunde auch Kameras befürchtet, das sind alles Hindernisse im Grunde. Das war für mich, diese Lampenfiebersituation war für mich auch immer ein Hindernis in den Sendungen Literatur im Gespräch im Saarländischen Rundfunk. Ich war fünf oder sechsmal Gast in diesen Sendungen. Arnfrid Astel kam damit eigentlich immer gut klar, mit der Situation. Er hat über tausend dieser Sendungen gemacht, die meisten waren Gespräche, und er konnte sozusagen schon während dem Sprechen im Radio das Radio vergessen und von diesem technischen Apparat abstrahieren. Für mich war das aber alles ein bißchen finster, ja? Man sprach quasi wie in so ein schwarzes Loch rein. Das Publikum war irgendwie – zum Glück sind Sie ja jetzt da –, aber im Funk, da gibt es irgendwie einen abstrakten Hörer. Der ist ziemlich weit weg, und der sagt auch nicht mal was. Und der Päderast ist auch nicht da, meistens. Und man muß ihn sozusagen auch noch substituieren, in diesen Situationen. (Zwischenruf Arnfrid Astel) Du warst anwesend, Arnfrid, gut, ja. Es ist aber ne typische Autorensituation, ich wollte es jetzt allgemeiner verstehen. Auch wenn dann kein Gesprächspartner da ist, ja? Wobei das Tolle natürlich das Gespräch ist, ganz klar.

Aber es gibt glaub ich in der Rezeptionsästhetik so einen Begriff, sie liefert einen Begriff dafür. Sie kennt ja den impliziten Autor und auch den impliziten Leser. Das ist der Leser, den der Autor sich gewissermaßen vorstellt, der im Text immer mitgemeint ist. Und so braucht man eigentlich als Autor auch den impliziten Päderasten. Es gab auch Hürden in seinem Seminar, ähnliche Dinge. Und ich erlebe es manchmal noch in meinen eigenen Seminaren an der Universität. Es hängt natürlich möglicherweise mehr mit der Gruppendynamik zusammen. In meinen Seminaren zum Beispiel red ich auch immer viel zu viel, so wie jetzt. Und zu schnell. Als könnte ich nicht mehr aufhören, als wäre ich gewissermaßen selbst der Kairos, der immer auf der Flucht ist und, ja, nicht richtig festgehalten werden kann. Auch Angst hat vor dem Festhalten. Müßte mich vielleicht mal selbst am Schopf packen.

Ja, Arnfrid also ist mit dieser Situation viel besser klargekommen. Aber er hat sozusagen auch alles andere, was gewissermaßen nicht dem Transport, dem Haltbarmachen, der Verbreitung der Erkenntnismomente und der Poesie diente im Funk, verachtet. Muß man so sagen. Er hat das sogenannte Funkische für überflüssig, sogar für schädlich gehalten. In jedem klugen Gespräch geht es um die Gegenstände, es geht um die Dinge, es geht um ihr kultisches Interesse. Und gegen das Funkische hat Arnfrid immer die Funken gesetzt, die aus der Reibung an den Gegenständen entstehen. Die Kurzzeitphysik des intellektuellen Kairos.

Ich hab das von ihm zu lernen versucht, aber es ist mir noch nicht so gut gelungen, geb ich zu. Ich gewöhne mich nur langsam daran, trotz aller Widrigkeiten des Apparats auf den Höhepunkt zu kommen. Wenn ich daran scheitere, also im Gespräch mit meinen Studenten etwa, dann bin ich sehr mißmutig. Und manchmal höre ich mir dann einfach eine alte Rundfunksendung von Arnfrid Astel an, ein Gespräch. Und höre, wie ihm das immer wieder gelingt mit dem Funkensenden.

»Der Augenblick, ein Falterblick«, so beginnt Astels Gedicht Bildnis der besonderen Art, namengebend für eine kleine Sammlung Sand am Meer, 1995 veröffentlicht in den HOREN.

Der Augenblick,
ein Falterblick, ein Haiku,
das auch den Schmetterling nicht auf die Nadel spießt,
nicht auf den Blütenpunkt
Pointen setzt,
ein Schnappschuß,
nicht von einer Krötenzunge,
verweilt das Bildnis
der besonderen Art.
Der Falter ist enteilt
aus seinem Sommer,
jedoch sein Bild
bleibt da in deinem Buch.

Da haben wir dieses Aufgeschlagene, das Zweiflügelige, assoziiert in verschiedenen Erscheinungsformen: als Auge, als Falter, als Buch. Der Falter hat, vereinfacht betrachtet, zwei Flügel, klar, dazwischen ein Scharnier, die Falte. Die Augen haben zwei Lider. Das Buch hat diese Blätter, die gefaltet und geheftet sind. Und denken Sie mal bei Auf- und Zuklappen auch an das Pfauenauge. Das ist ein besonderer Schmetterling. Wenn der aufklappt, dann poppen sofort vier Augen auf, also Zeichnungen auf seinen Flügeln, so daß man natürlich für einen Augenblick den Eindruck hat, man wird beobachtet, man wird gesehen. Hohe Aufmerksamkeit. Das ist natürlich Mimikry, eine Signalfälschung, ja? und so ne provokante Doppelklappe.

Ich glaub die meisten Kameras haben Schlitzverschlüsse, früher hießen die Momentverschlüsse, für den Schnappschuß. Und die Kaurimuschel, übrigens eins der ersten Zahlungsmittel, stand schon vor den alten Griechen, schon in Afrika, sowohl für die Augen als auch für das weibliche Geschlecht. Das Zweigeflügelte spiegelt sich wieder im Alexandriner, der so eine Zäsur in der Mitte hat, so eine Knickstelle. Der Alexandriner ist ein sechshebiger Jambus. Und Jambus bedeutet, ja, zumindest ist es verwandt mit dem französischen Wort jambe, das Bein.

Jetzt sind wir fast schon mittendrin. Ich will aber nur im Schnelldurchlauf ein paar Funken und Blitzlichter aufleuchten lassen für eine Phänomenologie des Augenblicks. Arnfrid hat das alles natürlich ausführlicher und besser, und vor allem lyrischer, exemplifiziert, durchexerziert – nee, das ist irgendwie so ein militärisches Scheißwort – er hat es assoziiert, in seinem Buch Jamben und Schmetterlinge. Das ist also etwas sehr Wichtiges, was man von ihm lernen kann: wie man den Augenblick in die Nußschale bekommt, wie man die Wahrnehmung festhält und sprechbar macht, und den Moment, geheftet an einen Gegenstand, in dieser Nußschale dann schwimmen läßt.

Ja, jetzt ist eigentlich die Zeit schon um. Arnfrid, du könntest vielleicht nachher bei deiner Dankrede einfach nur auf die Bühne kommen, dich dreimal verneigen, dreimal danke sagen, und wir haben zehn Minuten gespart, und ich kann noch zehn Minuten reden. (Zwischenrufe) Nein? Das hab ich mal bei Gerhard Tänzer erlebt, der hat das so gemacht. Ich würde nämlich gerne noch auf ein Zweites zu sprechen kommen.

Diesen zweiten wichtigen Punkt, persönlichen auch: Wenn wir schon mal im Wasser sind, was hat es nun mit diesem Delphinreiter auf sich? Das hab ich eigentlich gelernt von Arnfrid Astel aus seinen Gedichten und essayistischen Reden, daß Poesie etwas mit Mythen zu tun hat. Als Dichter arbeitet er ständig an und mit den Mythen. Mythen sind Texte besonderer Art, das kann ich jetzt nicht näher ausführen, aber die Dichtung macht sie haltbar. Sie können sogar über Jahrtausende irgendwie schlafen, ja? verdeckt, versteckt, nicht explizit und lautstark auftreten, aber aufgehoben sein in einer Art von – man könnte vielleicht sagen denkmalgeschütztem kollektiven Unbewußten. Dort sind sie sedimentiert und kommen zum Vorschein vielleicht nur mit kleinen Spitzen, in Pflanzennamen oder Alltagsritualen, die gar nicht mehr reflektiert werden. Und diese Dinge wieder sprechbar zu machen, dingfest, ist Aufgabe der Dichter. Jedenfalls von Arnfrid Astel. Aufklärung und Remythologisierung in einem. Er packt die Mythen an ihren konkreten Erscheinungen, greift sich ihre sichtbaren Dendriten und verfolgt die Rhizome in seinen Gedichten.

Der Arion-Mythos, den ich jetzt nur als Beispiel anspreche, den hat Arnfrid selber in einer langen Rede, fast einem Gesang, 2005 im Saarländischen Künstlerhaus vorgetragen, in einer essayistischen Rede dargestellt, mit Gedichten auch – der SR hats übrigens mitgeschnitten und hat es im Archiv, wäre auch noch mal sendbar –, und man kann es nachlesen im STRECKENLÆUFER, Nummer 23, dieser literarischen Zeitschrift im Saarland. Zum Festhalten hat damals Arnfrid Astel einen Pottwalzahn mitgebracht. Den hat er rundgereicht. Und auf diesem Pottwalzahn war eingraviert von Walfängern wahrscheinlich, von Seeleuten, ein Bildnis des Arion und seiner Kithara. Also ein Text auf einem und auf einen Gegenstand, dieses typisch Epigrammatische.

Arion war ein griechischer Dichter und Sänger, ungefähr 600 vor Christus. Aus Lesbos stammte er, wirkte aber am Hof in Korinth bei diesem – wie hieß der nochmal – Periander, Periander von Korinth. Sein großes Verdienst war, er hat den Dithyrambos erfunden und weiterentwickelt. Das ist ein Kultgesang gewesen zu Ehren des Dionysos und wurde bei Dionysos-Kulten hymnisch vorgetragen. Und er hat ihn irgendwie weitergeschrieben und verselbständigt, der Arion. Er ist aber auch gereist, auf Tournee gegangen, und bei einem song contest in Sizilien, einem Sängerwettstreit, hat er den ersten Preis gewonnen und wurde ungeheuer mit Ruhm und Reichtum überhäuft. Auf dem Rückweg, auf dem Schiff nach Korinth, haben die Schiffer beschlossen, ihn zu töten und auszurauben. Sie haben ihm das auch mitgeteilt. Und er hat dann, quasi als letzten Wunsch, geäußert, er wolle nochmal den Dithyrambus singen, zu seiner Kithara. Das haben sie ihm auch gestattet. Er hat dann im vollen Ornat gesungen, und ist plötzlich, nach dem Gesang, über Bord selbst ins Meer gesprungen. Ein Delphin, den sein Gesang angelockt hatte, hat ihn gerettet, er hat ihn aufsitzen lassen. Und die Kithara hat er vorne auf den Delphinkopf gestellt, auf dieses Blasloch, wo dieser Nebel normalerweise herauskommt, diese Fontäne, ja? Und er hat weiter den Dithyrambus gesungen, während der Delphin ihn an Land gebracht hat.

Dazu jetzt zwei kleine Gedichte noch von Arnfrid, zwei Vier-, Fünfzeiler.

Die Melodie entspringt der Fontanelle
des rettenden Delphins. Arion spielt
die Kithara an Stelle der Fontäne.
So reitet er durchs Meer nach Tainaron,
zur Unterwelt, der Quelle des Gesangs.

Das zweite:

Ist Jonas auferstanden aus dem Wal?
Hat ein Delphin Ertrunkene gerettet?
Das Grab ist leer. Du bist der alte Mensch.
Arion lebt. Das Lied ist nicht gestorben.

Machen wir uns nichts vor in unserem improvisierten mythologischen Delphinarium: Wahrscheinlich haben ja die korinthischen Schiffer doch Arion ausgeraubt, umgebracht und die Leiche ins Meer geworfen. Selbst in der Legende, aufgezeichnet von Herodot zweihundert Jahre später, das war’s schon ne Legende, bringt der Delphin den Arion nach Tainaron. Tainaron ist der Eingang zur Unterwelt. Also das steht ja wohl für den Tod.

Was hat aber überlebt? Der Gesang hat natürlich überlebt, die Kithara hat überlebt, die haben wir heute noch in der Gitarre, weiterentwickelt, und der Dithyrambus. Naja, der, von dem weiß man nicht mehr sehr viel, wie der sich angehört hat. Aber es ist sozusagen, ja, der Mythos von Arion. Diese Legende ist zum Mythos geworden, und die hat auch überlebt. Arion hat irgendwie selbst als Delphinreiter überlebt. Er ist wiedergeboren, an Land gespuckt worden wie Jonas aus dem Wal. Und so ist diese Arion-Legende, in der Arion die Poeten eigentlich vertritt, die etwas über ihren Tod hinaus Haltbares zuwege bringen, ein selbstreferenzielles Lehrstück über die Haltbarkeit des Mythos. Der Arion-Mythos ist ein Text, der selbst darstellt, wie er aus einem Verbrechen entsteht, ins Schwimmen gerät und sich verbreitet.

Und indem er über das Delphinreiten Gedichte schreibt, ist Arnfrid selbst ein Delphinreiter. Lebt aber zum Glück noch, ja? Arnfrid Delphinreiter auf dem Wellenkamm des Augenblicks. Wir werden ihn auch nicht ausplündern, sondern ihm jetzt den Gustav-Regler-Preis überreichen. Es ist kein großer Reichtum mit ihm verbunden, aber Ruhm. Bitte, Herr Oberbürgermeister.