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  Titel Arnfrid Astel im Gespräch mit Gerd Schäfer...


GS: Endlich sitzen wir beisammen, um über Hubert Fichte, deine Freundschaft mit ihm und über die Alten zu reden, über Griechen und Römer. Mit einer unvorsichtigen Höflichkeit habe ich zugestimmt, dir die Eröffnung zu überlassen. Es folgt nun, wie ich vermute, ein typisches Astel-Entree.

AA: Danke; höflich und unvorsichtig. Wir sitzen also hier, nach langen Planungen, in meiner Wohnung an einem kleinen Tisch, der üblicherweise ziemlich unaufgeräumt ist, weil Frühstückstassen und Abendbrotreste darauf liegen. Habe ihn extra für unser Gespräch freigemacht. Damit wir Platz haben; und damit du siehst, mit welch wunderbaren Keramikkacheln, die Mosaike vortäuschen, der Tisch belegt ist. Ursprünglich ist es ein Muster mit einem Wellenmotiv, einem Wellenfries, gedacht für Badezimmer. Ich habe sie jedoch als sogenannten »laufenden Hund« um das Viereck drapiert, so daß etwas Ähnliches wie ein Oktopus entsteht. Von einem »laufenden Hund« reden die Archäologen deshalb, weil die sich überschlagende Welle wie der geringelte Schwanz eines Hundes aussieht. – Lieber Gerd, nun ein zweites. Auf dem Tisch liegt außerdem eine Schale mit frischen Himbeeren. Und ich wollte das Gespräch in Umkehrung der sonst üblichen Art – du fragst ja mich, sprichst mit mir – selbst beginnen, weil mit der Eitelkeit des Schriftstellers immer zu rechnen ist; eben auch schon zu Beginn. Ich habe nämlich ein Gedicht über Himbeeren geschrieben, ist ein Weilchen her. Und das will ich dir jetzt vortragen.

GS: Aus dem Kopf?

AA: Natürlich aus dem Kopf, woraus denn sonst: »Gibt es Himbeeren / auch im Himmel? / Der Himmel / ist eine Beere. / Früher waren wir / selbst der Himmel.« Das Gedicht heißt Morula, müßte aber eigentlich Gastrula heißen. Beides bezeichnet Zellstadien, nachdem sich die Eizelle vermehrt hat. Die Himbeere sieht wie eine Gastrula aus, diese ist innen hohl, weil der Zellhaufen sich eingestülpt hat. So!

GS: Hm, erst mal vielen Dank für diese eigenmächtige und bemerkenswerte Eröffnung. Wobei ich gleichzeitig hoffe, daß sich während unseres Gesprächs manches vergleichbar entwickelt, möglichst ohne Hohlheit. Doch es zeigt sich bereits jetzt, daß, wenn man dir gegenübersitzt, gelegentlich der gelenkte Zufall, die gelenkte Vorsehung der Unterhaltung ins Spiel kommt, kommen kann, und kommen soll. – Beispielsweise ist in der Palette, dem wahrscheinlich bestverkauften Roman Hubert Fichtes, der Oktopus, der Tintenfisch, eine zentrale Metapher. Das Skelett des Tintenfisches wächst von außen nach innen, von der Haut in den Körper. Und so ähnlich verfährt Fichte beim Schreiben; das Offensichtliche wächst als Gerüst in das entstehende Buch, es ist sein Kompositionsprinzip.

AA: So ist es sogar in der Embryonalentwicklung. Die Außenhaut stülpt sich nach innen; und das ergibt dann die inneren Teile des Körpers. Eigentlich ist das Innere ein Produkt des Äußeren; wie beim Oktopus, wie in der Palette.

GS: Stimmt. Wie man sieht, gibt es die unterschiedlichsten Traumpfade hin zu Fichte. Man könnte noch hinzufügen, daß in der Palette die Tentakeln, die Fangarme, nicht zu unterschätzen sind. Das Erzählen, Niederschreiben zieht nicht nur Wörter und Worte heran, sondern gleichfalls den Leser selbst. – Zu der wilden Einführung wäre noch zu sagen, daß ihr beide, Fichte & Astel, einmal verwildert in Beziehung gesetzt worden seid von einem gewissen Hans Peter Duerr, dem bekannten widerspenstigen Ethnologen. In dessen Kampfblatt Unter dem Pflaster liegt der Strand, einer Zeitschrift für Kraut und Rüben, erschienen 1981 ausgewählte Epigramme von dir, mit der Überschrift Verweilen der Wellen auf dem Pflasterstein. In Fichtes Beitrag – es handelt sich um die Polemik gegen Rimbaud, der, folgt man Fichte, in Afrika als Ethnologe gescheitert ist – wird von Gelehrten »etwas mehr Bücherwissen und Hinterfotzigkeit« gefordert.

AA: Noch mehr Bücherwissen? Die Hinterfotzigkeit leuchtet mir direkt ein in bezug auf die Gelehrten, das könnte man ihnen wirklich wünschen. Aber noch mehr Bücherwissen?

GS: Lassen wir es damit bewenden – und gehen jetzt verspätet in medias res. Es gibt unter Eingeweihten ein legendäres Schreibheft anläßlich des fünfzigsten Geburtstages von Fichte, das vielleicht ein wenig zu kompakt geraten ist. Man wünschte es sich offener, damit man die Schätze besser entdecken kann. Beispielsweise wird bis heute nicht wahrgenommen, daß damals die beiden Herausgeber, Christoph Derschau und Norbert Wehr, sich ebenfalls die Mühe gemacht haben, den ethnographischen, ethnologischen Fichte vorzustellen, Auf der Suche nach einer poetischen Anthropologie. So wurden verhältnismäßig unbekannte Artikel aus einem eher randständigen Periodikum wiederabgedruckt, aus der Zeitschrift für Ethnomedizin. Und es wurden außerdem Kronzeugen Fichtes präsentiert; mit Lydia Cabrera eine Kubanerin, die über Besessenheitskulte forschte, und mit Pierre Verger der weltweit bekannte Ethnologe und Fotograf. Und es gibt im Schreibheft von 1985 extraordinäre Recherchen, außergewöhnlich besonders eine schriftliche Verwilderung, die im Titel den Namen des ersten Lyrikers führt.

AA: Archilochos und das Verlangen, die Nachtigall anzulangen. Ich kam durch Ed Sanders auf Archilochos. Sanders hat seine eigenen Gedichte selbst gesungen, und es gibt von ihm ein langes Gedicht oder Lied über Archilochos, worin es heißt: »Oh I learned from Archilochos / about the nightingale / oh I long to hold the nightingale / nesting in my hands«. Sanders will also die Nachtigall berühren, »to touch the nightingale«. Ich wollte eigentlich wissen, was damit gemeint ist. Mein Verdacht war nämlich, daß schon bei Archilochos das Geschlecht der Frau als Nachtigalljunges bezeichnet wird. Dieser Sache bin ich umständlich nachgegangen. Ich wollte ihr überhaupt nicht umständlich nachgehen, war aber zur Umständlichkeit gezwungen durch die Prüderie der Philologen, die überall sagen, wie derb und sinnlich und sexuell Archilochos ist, dann aber relativ zahme Sachen zitieren. Und die wilden, ungeheuerlichen Dinge, auf die ich neugierig war und bin, einem vorenthalten. Die Recherche war sehr anstrengend. Und jetzt kann man es sagen: Hubert war von Anfang an eingeweiht, und es hat ihm gefallen. Über einen Mittelsmann erfuhr ich dann aus Amerika, direkt von Ed Sanders selbst, die genaue – versteckte – Textstelle. So war ich letztendlich durch eine andere Umständlichkeit erfolgreich, und ich bin mittlerweile sehr dankbar für diesen umständlichen Weg. Er war peripathetisch, eigentlich Fichtes Methode.

GS: Wir reden hier über die Alten, über antike Autoren in ihrer Beziehung zu Fichte, und sollten die Gelegenheit nutzen, ebenfalls etwas über die Klassiker selbst zu sagen. Obgleich man im Schreibheft eher anderes erwarten dürfte.

AA: Aber vielleicht ist gerade ein solches Verfahren modern: Von der Gegenwart aus zu den Klassikern zurückzukehren.

GS: Dann versuchen wir es mal mit Archilochos. Wenn man die heute zugänglichen Ausgaben aufschlägt, trifft man sehr oft auf eine Empfehlung von Ezra Pound; übrigens für Fichte das Maß aller Dinge, der Lehrer schlechthin. Für Pound ist Archilochos der erste. Er hat nämlich etwas entdeckt, erfunden: die Lyrik. – Ich will gleich etwas hinzufügen. Merkwürdig bleibt, daß wir auf Archilochos hingewiesen werden durch Amerikaner. Durch Ed Sanders beispielsweise, der behauptet hat, er sei wegen Charles Olson zum Lyriker geworden. Und Olson ist wiederum jemand, den Walter Höllerer in den sechziger Jahren als Gastdozent ins Literarische Colloquium Berlin einlud. In dem übrigens ebenfalls Fichte als junger Schriftsteller war. Auf solch kuriose Korrespondenzen trifft man bei Hubert Fichte immer wieder.

AA: Ja, das stimmt. Das Werk von Archilochos selbst ist sehr dünn, Ed Sanders singt von »scattered lines«, dafür ist der Kommentar ungleich ausführlicher, aber nicht ausreichend. Ich persönlich bin nicht über Amerika zu Archilochos gekommen, sondern durch mein Herumschnüffeln in der Antike. Aber ich habe mich gefreut, als mir bewußt wurde, daß die wilden Amerikaner eigentlich Altphilologen waren, wie Sanders und Olson. Deren anderer Blick machte die ganze Sache erneut interessant. Man kann Ezra Pound, den Urvater, gar nicht hoch genug schätzen. Meine eigene Verschrobenheit, im archaischen Archilochos herumzustochern, wurde durch Mitkämpfer geadelt. Das Besondere an Archilochos ist seine direkte Gegenständlichkeit, seine direkte Körper- und Dingbezogenheit, das heißt, er faselt nicht moralisch und philosophisch in der Gegend rum, sondern er ist eben darin archaisch, wie später Sappho, daß er den Gegenstand, die Glieder des Körpers benennt, wie auch die Liebe selbst. Und das alles nicht als eine Sprechblase, sondern als etwas, das stattfinden kann; und was er stattfinden läßt und woran er sich erinnert, daß es stattgefunden hat. Aggressiv wurde er als Lyriker, wenn man ihm entgegentrat, wenn Abmachungen gebrochen wurden. Schon in der Antike wurde ihm der Vorwurf gemacht, die Gabe der Musen zu mißbrauchen; eben weil er nicht immer schön ist, melodisch. Als Lyriker ist Archilochos aggressiv; und das ist eigentlich gemeint, wenn man von einem »Jambendichter« redet.

GS: Er war sogar Soldat.

AA: Ja. Er soll außerdem seine Feinde durch Schmähreden in den Tod getrieben haben.

GS: Wenn man die »scattered lines« liest, kann man durchaus zu der Meinung kommen, Archilochos sei ein ausgesprochener Choleriker gewesen. Er ließ sich nichts gefallen. Bei ihm geht es um persönlichen Ausdruck, wobei der Ausdruck immer eine Stellungnahme ist. Es ist das augenblickliche Verhältnis zur Welt, das erfaßt wird als penetrante Präsenz.

AA: Archilochos hat die Person in die Lyrik gebracht, er ist derjenige, der »ich« sagt.

GS: Was es mit Jamben und Archilochos auf sich hat, konnte man sehr schön sehen und hören, als du 1989 auf dem ersten Fichte-Symposion deine schriftliche Annäherung mündlich weiterführtest. Wobei du dem Jambendichter Archilochos alle Ehre gemacht hast. Der Jambus wird oft als Metrum des Beschimpfens verstanden.

AA: Ursprünglich war er das auch; diese Dichter wurden als Jambographen bezeichnet. Was aber der späteren Entwicklung entgegensteht; da verkommt der Jambus zum dahingeleierten Vers, ist nicht mehr der Vers der Lyra. Er wird gezähmt.

GS: Aristoteles behauptete, daß Menschen im Alltag jambisch reden.

AA: Das stimmt, der Rederhythmus ist alternierend, auf deutsch betont / unbetont.

GS: Die alten Griechen beschimpften sich wahrscheinlich sehr gern. Dein Vortrag führte dementsprechend dazu, daß die Contenance im Publikum verlorenging. Die sehr akkurate Transkription – zu lesen in der Sammlung Einhornjagd und Grillenfang, die deine Zöglinge an der Universität des Saarlandes herausgaben, du warst ja ein kleiner saarländischer Olson – schließt mit einem merkwürdigen Tatbestand: »Gegen Ende ist ein Tumult entstanden.« Dein wilder Durchmarsch durch die Literaturgeschichte legte von den Anfängen an, von Hesiod und dem Liebling Apollos mit Namen Archilochos, sogenannte obszöne Etymologien offen, alles wurde von dir auf das Geschlechtliche zurückgeführt. Was im Publikum beinahe Schlägereien ausgelöst hätte, direkt hinter mir.

AA: Na. Die damals ebenfalls anwesende Brigitte Kronauer ist bis heute angetan von meinem unterhaltsamen Vortrag. Die Obszönität, von der du sprichst, liegt in den Worten selbst; und in den Gegenständen. Wenn also Archilochos in einer »scattered line« das Geschlecht der Frau als Nachtigalljunges bezeichnet, ist das zuallererst eine sehr zärtliche Beschreibung. Die Obszönität ist ein Mißverständnis, das Benennen des Körpers und der Liebe ist nicht obszön.

GS: Und wenn es um die alten Wörter geht, willst du sie noch einmal mit Leben füllen.

AA: Ja, weil wir sie noch immer benutzen, aber leider harmonisiert und entsexualisiert. Von Kindheit an werden sie uns ohne Verstand lediglich eingepaukt, ad usum Delphini. Wir lernen keinen pädagogischen Eros mehr kennen, Lehrer und Dozenten sind zu Steißtrommlern degradiert.

GS: Fichte selbst, der als Schüler kein Griechisch gelernt hatte, wurde mit zunehmendem Alter ein ausgesprochen fleißiger Autodidakt. Wobei er im Buchstabensinn archaisch begann, er fing mit dem Ursprung an, mit den Ursprüngen, mit Herodot und Homer, dem ältesten Ethnographen und dem ältesten Epiker.

AA: Der älteste Lyriker ist Archilochos.

GS: In Fichtes Werk gibt es dann eine neue Tendenz, nämlich die Zuflucht zu den alten Begriffen, wie logos, kosmos, psyche.

AA: Wenn wir heute ein Wort wie Psychoanalyse benutzen, dann sollten wir uns an die alten Bedeutungen erinnern.

GS: Es gibt noch ein anderes Wort, das bei Archilochos und Sappho eine ganz andere Bedeutung hatte, nämlich das Wort »Koma«.

AA: Bewußtlosigkeit.

GS: Gemeint war einerseits Bewußtlosigkeit, andererseits eine gewisse Übererregtheit, Überempfindlichkeit. Jemandem, der besessen ist, stößt etwas Besonderes, nicht Alltägliches zu.

AA: Koma wie Trance, sozusagen die Stufe der größten Erregung.

GS: Du bist ein wahrer Stichwortgeber. Hier kommt wieder der gelenkte Zufall ins Gespräch.

AA: Aber du weißt ja, daß ich über diesen Verdacht erhaben bin. Ich bereite nichts vor. Die Geistesgegenwart – das ist es; und nicht das Blättern in Büchern, das haben wir früher gemacht, vor langer Zeit.

GS: Es gibt einen kleinen Text von Fichte, der in einem dicken Buch erschienen ist, innerhalb der Geschichte der Empfindlichkeit, in dem Glossenband Psyche. Enthalten sind unter anderem Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1985. Fichte hält sich in Afrika auf, in Benin, und denkt über seine Rolle als Beobachter nach. Es heißt, der »Zustand des Ethnographen« ähnele der Trance, welche Gnade und Grazie heraufbeschwöre, »zwei naturwissenschaftlich kaum zu reduzierende Begriffe«. Überwachheit ist nach Fichte der eigentliche Zustand des Ethnographen.

AA: Das ist das fokussierte Interesse. Diese Überwachheit hatte Fichte in großem Ausmaß, wie auch Bruce Chatwin, der in Australien die Traumpfade abgeschritten hat.

GS: Und übrigens Reisereportagen über Benin schrieb. Fichtes und Chatwins Traumpfade haben sich mehrmals in Westafrika gekreuzt.

AA: Diese Übererregtheit ist eine Übererregtheit erotischer Art, es ist das Verlangen selbst. Giordano Bruno hätte es »heroische Leidenschaft« genannt, es ist die Jagd nach Erkenntnis. Man könnte es auch alttestamentarisch verstehen.

GS: Wie ich dich kenne, meinst du das Zusammentreffen von Göttlichem und Menschlichem, lateinisch: Koitus, griechisch: Synagoge.

AA: Genau. Und dann kommen die Kinder, nicht nur das Wissen.

GS: Fichte rekurriert in dem Text auf einen anderen Begriff, auf den Begriff der Epiphanie. Höllerer hat in den frühen sechziger Jahren hierzu einen langen Essay geschrieben.

AA: Irgend etwas scheint auf und man nimmt es aufgrund der Erregtheit wahr. Und will es dann schriftlich festhalten. Der Unterschied zwischen der Antike und der Moderne besteht darin, daß die Alten ihr Erregungsmoment göttlich apostrophierten. Die Erregtheit kam von außen, Sapphos Zittern kam von außen. Die moderne Versuchung, die agnostische, besteht darin, alles physikalisch oder chemisch erklären zu wollen. Der Ursprung liegt dann im Kaffeetrinken, und die Götter hausen im Kaffeefilter.

GS: Ethnologen reden von kosmologischem und psychologischem Code, wobei die Begriffe mittlerweile selbst schon verhunzt sind. Die Hinneigung zu Epiphanien birgt aber Gefahren in sich. Fichte macht überall Epiphanien aus. Wenn er als Benin-Reisender einen alten Mann sieht, ist sofort der »Sänger der Ahnen des Königs« am Wirken: »Homer«. Der vielleicht in »sapphischen Elfsilbern« singt oder in »homerischen Versen«. Ein weiterer Sänger lacht sein »kultisches Lachen«: »Archilochos lacht. / Singt er einen falschen Ton, stirbt er am nächsten Freitag.«

AA: Sehr gefährlich; Hubert neigte zu Übertreibungen. Es gibt diese Manie, überall etwas zu sehen, was man sehen will. Noch einmal zum Titel meines Beitrags, ich spreche vom »Verlangen«. Verlangen will, daß das von außen bestätigt wird, was innerlich erregt hat. Man will in das Recht der eigenen Traumpfade eingesetzt werden. Eigentlich suchen wir immer eine neue Bestätigung unserer selbst. Und die Antike bietet dieser psychischen Vorstellung, dieser Sehnsucht, dieser sentimentalischen Vorstellung sehr viele Gewährsstellen, Gewährsleute. Die Antike wertet jemanden auf zu einer psychisch-somatischen Person, die »ich« sagen kann. Okay, ich will nicht verallgemeinern. Aber das Menschliche wäre genau das, die heroische Leidenschaft – nach vorsokratischer Erkenntnis.

GS: Im Wortsinn ginge es dann um eine Anthropologie, die den Ehrentitel des Humanen verdiente. Man beschäftigt sich ja auch deshalb mit den Alten, weil gegenwärtig etwas fehlt. Für Fichte hieß dies, Epiphanien nicht nur in der Schrift festzuhalten, sondern sie, bei allen Gefahren, außerhalb der Buchstaben zu suchen.

AA: Selbstverständlich, in den Dingen, in den Phänomenen. Buchstäblich sind damit die Planeten als sichtbare Götter gemeint, nur in ihren Namen waren die Götter erkennbar. Und das sind die Erscheinungen. Was man mit den Augen sieht, mit der Nase riecht, mit den Ohren hört, mit der Zunge schmeckt; und was mit anderen Dingen des Körpers erfahrbar ist.

GS: Unser eigenartiger gelehrter Pfad führt jetzt vom Mann zur Frau, von Archilochos zu Sappho.

AA: Sie lebte ein wenig später, nach Archilochos; von uns aus gesehen ist sie jünger. Wir reden hier von einer vorchristlichen Zeit. Und ihr Werk ist ähnlich dünn, »scattered lines«.

GS: Fichte hat 1983 im Saarländischen Rundfunk seinen Sappho-Essay selbst gelesen, einschließlich der griechischen Sappho-Stellen. Genau fünfzehn Jahre nach der Palette-Lesung. Überraschend ist aber, daß Fichte kurz darauf große Teile aus einem Roman vortrug, der erst 1971 erscheinen sollte, nämlich Detlevs Imitationen »Grünspan«; es gibt sogar eine Saarbrücker Live-Lesung aus dem Jahr 1969. Man findet erfreulicherweise im Archiv das mittlerweile bekannte Kapitel über die Bombenangriffe auf Hamburg, berühmt nicht zuletzt infolge W. G. Sebalds Nachforschungen zum Schwerpunkt »Literatur und Luftkrieg«. Du hast Fichte außerdem die Gelegenheit gegeben, seine Schriftstellerschelte, die eigentlich eine Beschimpfung des Literaturbetriebs war, zum Besten zu geben. – Detlevs Imitationen »Grünspan« ist auch der erste Roman, in dem ein gewisser Wolli auftaucht. Jäcki und Wolli führen gelehrte Gespräche. Und Wolli beklagt sich darüber, daß er kaum dazu kommt, »Pound und Proust« zu lesen. Worauf Jäcki erwidert, er mache den ganzen Tag nichts anderes, er wünsche sich mehr Geschlechtsverkehr. Hiermit ist wiederum der Bordellwirt Wolli ausreichend versorgt. Die Gespräche der beiden sind auch Versuche, Literatur noch einmal mit Leben zu füllen.

AA: Man könnte dialektisch sagen, Geschlechtsverkehr sei nichts anderes als Verkehr mit dem Menschengeschlecht; Verkehr hat nicht nur mit Ampeln zu tun. Die Jagd nach Erkenntnis ist auch eine Jagd nach jemand anders, als Verlangen ist sie eine sexuelle Jagd. Man forscht eigentlich, auch in der Literatur, nach der Eigenart des Menschen. Wir wollen erfahren, was artig ist, artig nicht verstanden in seiner verhunzten Bedeutung. Humanistisch wäre die Bestimmung des Artgemäßen, dessen, was dem Menschen gemäß ist. Deshalb sind dann die alten Dichter und Philosophen interessant, sie waren auf genau diese Fragen und Antworten scharf. Und Anthropologen, Ethnologen beschäftigen sich letztlich mit dem Menschen. Aber leider ist der Begriff heruntergekommen. Alle, von Merkel bis Schröder, reden davon, daß im Mittelpunkt der Mensch stehe; aber sie wissen nicht, was das überhaupt ist, der Mensch.

GS: Das ist wahrscheinlich die Triebkraft, die hinter jeder Ethnologie und Literatur steht.

AA: Ich bin froh, daß du Triebkraft sagst. Der niedere Trieb als höherer Trieb, das würde uns zur Psyche führen.

GS: In der Palette forscht Jäcki den Palettianern nach. An einigen Stellen wird er gefragt, ob er »à la chasse« sei, auf der Jagd.

AA: Das sind elementare Zusammenhänge, von denen man in der Volkshochschule und in der Universität nichts erfährt; es hätte etwas zu tun mit der fröhlichen und triebbetonten Wissenschaft.

GS: Vielleicht sollte man in einem kleinen Nebenpfad unseres Gesprächs darauf hinweisen, daß nächstes Jahr nach langer Zeit wieder ein Buch von Hubert Fichte erscheinen wird, ein Text-Bild-Band gemeinsam mit Leonore Mau, der über Geisteskranke in Afrika handelt; mit vertrautem Titel, Psyche. Enthalten sein wird darin eine schon bekannte Veröffentlichung Fichtes mit dem programmatischen Titel Die Buchstaben der Psyche. – 1978 steht jemand, wahrscheinlich Fichte selbst, in Togo, in Lomé, auf einem Zaubermarkt und hält ausliegende Gegenstände und sich einstellende Gedanken fest. Eingestreut sind Zitate von Lohenstein, Novalis, Empedokles und Bobrowski. Die Meditation endet mit folgenden Worten: »Die Dinge haben Macht über mich, weil ich sie selbst einmal war. / Buchstaben. / Stäbe, die auf den Boden geworfen werden? / Die Buchstaben der Psyche.« Man muß das immer wieder herausstellen. Auch wenn Fichte ein welthaltiger Schriftsteller war, bei ihm ging es vor allem um Literatur, um das Buchstäbliche. Und, aus eigener Kraft, aus eigenem Vermögen etwas darzustellen, noch einmal das darzustellen, was die Alten hinter Begriffen versteckten.

AA: Was sich sehr gut in seinen Sappho-Studien zeigt. Warum beschäftigt man sich mit den alten Griechen? Ganz einfach: weil sie interessant sind. Jeder, dem etwas an Literatur liegt, landet irgendwann bei Sappho.

GS: Es ist aber schon merkwürdig, wenn man sieht, was aus den Bewegten der sechziger Jahre geworden ist. Sie werden mit der Zeit, man kann dies positiv sehen, reaktionäre Literaten.

AA: Richtig. Aber immer noch zu wenig. Ich hing dem nicht an, als im Kursbuch der Tod der Literatur verkündet wurde, Hubert erst recht nicht. Was aber nicht so wichtig war. Ich will es paradox ausdrücken. Eigentlich geht es mir gar nicht um Literatur; sondern um das, was unabhängig von der Literatur existiert. Und dann um den Transfer, um Metamorphosen. Hubert war, man vergißt das, auch ein Ethnobotaniker. Daß Dinge ihren lapidaren Begriff erhalten, was selten geschieht, ist die erste Aufgabe des Schriftstellers. Vor der Literatur liegen die Gegenstände.

GS: Bei Fichte und auch bei dir kann man immer den pädagogischen Eros am Wirken sehen; und ihr befindet euch deshalb in ehrenwerter Nachfolge von Ezra Pound, dem großen Lehrmeister der modernen Literatur. Fichte hat einige Maßstäbe von ihm entliehen. Neueren Sappho-Editionen ist sehr oft ein Pound-Zitat vorangestellt: »Willst du den Inbegriff der Sache, geh zu Sappho.« Es ist sogar das Motto der Sappho-Übersetzung von Joachim Schickel, der eigentlich bekannt wurde als Mao-Eindeutscher.

AA: Ich kenne diese Übersetzung, habe sie gesendet im Saarländischen Rundfunk. Es war eine Ursache für meinen Konflikt mit dem damaligen Intendanten, dessen Name mir gerade entfallen ist.

GS: Fichte bezieht sich gegen Ende seines Essays ebenfalls auf Schickel, der, wenn man ihm glaubt, mehrere Jahrzehnte an der Übersetzung gearbeitet hat. Es handelt sich bei Sappho um hundert Originalseiten. Wobei die Passagen selbst lediglich durch Gewährsleute überliefert sind. Beispielsweise durch einen gewissen Maximus von Tyros; und genau von diesem Mann leitet sich der Titel der Maximus Poems von Charles Olson ab, einer Gedichtsammlung, die den Cantos von Ezra Pound gleichgestellt wird. Olson hat schon sehr früh, nach dem Zweiten Weltkrieg, lyrische Huldigungen auf Sappho geschrieben, wie auch der nicht hoch genug zu schätzende William Carlos Williams. Williams kommt hierbei auf etwas Besonderes zu sprechen, »skill in composition« nennt er es, die Fertigkeit im Aufbau von Lyrik. In dieser Zeit ist Fichte aufgewachsen, in dieser Zeit wurde er zum Schriftsteller. Schickel war, nebenbei bemerkt, Redakteur beim NWDR, dem Vorläufer des NDR, als Fichte zum jugendlichen Radiosprecher ausgebildet wurde. Es ist ein Übermaß von Traumpfaden, mit denen sich ein nachgeborener Spurenleser abzumühen hat.

AA: Das sind die Beziehungen, die zählen. Wie auch die Beziehung zwischen Olson und Rainer Maria Gerhardt, dem ersten deutschen Pound-Übersetzer. Und dann das Interesse von Helmut Salzinger an Gerhardt und an den Amerikanern, an der Literatur Chinas und Japans. Wodurch dann eine ideogrammatische Literatur quasi entdeckt wurde; der beobachtete Gegenstand soll durch Buchstaben buchstäblich evoziert werden, als Gedankenbild.

GS: Salzinger hat übrigens Fichtes Palette besprochen. Und in Detlevs Imitationen »Grünspan« gibt es lange Ausführungen zum Ideogramm.

AA: Ich denke aber, daß es nicht nur literarische Traditionen sind. Durch literarische Spuren wird eine menschliche Spur festgehalten. Und diese menschliche Spur gibt es natürlich in allen Zeiten. Die Literatur bewahrt, wenn sie gelingt, manchmal auch wenn sie mißlingt, eine anthropologische Konstante. Man sollte sich um Kultur- oder Geistesgeschichte nicht um ihrer selbst willen kümmern, sie sind eher Beweise dafür, daß Menschliches, Menschen schon vorher da waren. Und diese großen Denker, Archilochos und Sappho, sind Gewährsleute für das, was wir als Spätlinge auch wollen. Es geht dabei nicht nur um den Menschen selbst, sondern auch um den menschlichen Ausdruck. Hubert war auch – und das sollte man nicht vergessen – ein Botaniker, dem es um eine genaue Benennung ging, um eine zielgenaue Sprache, um Taxonomie.

GS: Als Schriftsteller jedoch hat er, so Fichte, von Sappho gelernt, »was eine Zeile ist«. Das ist allerdings kein Satz eines Botanikers, sondern das Geständnis eines Schriftstellers.

AA: Ja, hm, ja. Man kann aber von Sappho ebenfalls mit Gewinn verlernen, was eine Zeile ist. Da ist viel dran, aber auch viel nicht dran. Wir reden hier von poetischen Traditionen, die wir alle nicht genau kennen. Wir wissen nicht, wie Lyrik damals gesprochen wurde. Wie die Prosodie wirklich war, die Melodik, die Musikbegleitung. Und kann ein Prosaschriftsteller wirklich etwas von Lyrikern lernen …

GS: Man könnte sich einiges vorstellen als Begleitung für soch einen Vers: »Gliederlösender Eros treibt mich / um, süß-bitter, unzähmbar, ein wildes Tier.«

AA: Richtig, könnte man. Aber ich muß jetzt als Jambograph ein wenig aggressiv gegen dich werden. Und gegen dein Curriculum, deinen sorgfältig geplanten Gesprächsverlauf. Weil ich noch immer einem Gedanken nachhänge. Wo hat eigentlich Sappho gelernt, was eine Zeile ist? Wir Spätgeborene können leicht Stammbäume aufstellen, wir haben die Versgeschichte in Büchern niedergeschrieben. Natürlich gibt es Traditionen. Auch Sappho ist nicht auf der flachen Hand gewachsen. Nur kennen wir kaum ihre Zeitgenossen. Aber was ich sagen will: Von Sappho eine Zeile lernen – wunderbar; weil Sappho ihre Zeile von sich, ihrer Liebe, ihrem Körper und von den Phänomenen, der Wahrnehmung der Dinge gelernt hat. Das heißt, was vor der Literatur ist; nicht historisch gesehen. Bevor ich ein Gedicht schreibe, bin ich ergriffen, bin ich ins Zittern gekommen. Man kommt nicht beim Gedichteschreiben ins Zittern. Ich behaupte, Sappho hat mindestens zur Hälfte gelernt, was eine Zeile ist, mittels ihrer Vorstellung menschlichen Verkehrs und durch ihre Praxis; das übrige war Tradition, Poetologie und bereits damals bekannte Literaturgeschichte. Als Person war Sappho eine Lehrerin für junge Mädchen, die sie ausbilden und heiratsfähig machen sollte, sie vermittelte sie durch Bildung, Gesang und Tanz an Männer. Sie machte Mädchen begehrenswert; und vielleicht hat sich Sappho dann in die eigenen gelungenen Bildungsergebnisse verliebt.

GS: Man könnte einen Begriff benutzen, der mittlerweile anders gebraucht wird. Sappho löste duch Bildung bei Mädchen ein »coming out« aus. Die Mädchen sollten zu sich selbst finden. Und wurden dann verheiratet.

AA: So wie man einen Schmetterling – griechisch: psyche – in der Hand behaucht, damit er wieder ins Leben und zum Flug kommt, so hat Sappho die Koren, die jungen Mädchen, les jeunes filles en fleurs, behaucht, sie hat sie eigentlich durch Bildung belebt.

GS: Da sprach jetzt der Naturdichter. Auch in Fichtes Werk gibt es die Tendenz, geradezu die Manie, Menschen zu sich selbst finden zu lassen; immer jedoch gemäß Fichtes eigenem Verständnis. Zwanghaft wird etwas offengelegt. Typisch ist hierfür ebenfalls der Sappho-Essay, der durch ein Übermaß an zur Schau getragener Bildung gekennzeichnet ist.

AA: Aber gleichzeitig bildungsverachtend ist; oder die Gebildeten verachtend.

GS: An einigen Stellen zeigt er Witz im alten Sinn, beispielsweise im Titel: Männerlust – Frauenlob. Anmerkungen zur Sapphorezeption und zum Orgasmusproblem.

AA: Den hat Hubert bewußt gewählt. Er war und ist notwendig wegen der Prüderie, nach den Editionen ad usum Delphini und in Zeiten von Beate Uhse. Sappho selbst wäre ein Wort wie »Orgasmusproblem« nie über die Lippen gekommen.

GS: Fichte hat sich immer gegen Projekte ad usum Delphini gewandt, gegen, wenn die Wortkeckheit gestattet ist, Flipper-Bücher aus dem Kinderprogramm.

AA: Stimmt. Wenn diese Unternehmungen sich wenigstens auf dem Niveau des Delphins tummeln würden. Vom Delphin kommt man sehr schnell nach Delphi, was meine kecke wörtliche Entgegnung ist. Und dann wäre man buchstäblich nicht mehr weit weg vom griechischen Ausdruck für Gebärmutter. Dies nur als Nachtrag zu den vermeintlichen Obszönitäten.

GS: Obszön meint ursprünglich das, was der Szene entgegensteht; was nicht dargestellt wird, nicht dargestellt werden darf.

AA: Das ist eine ganz wichtige Sache. Die Literatur, die Dichtung spricht das aus, was eigentlich nicht gesagt werden darf und nicht gesagt werden kann. Aus diesem Paar, unsagbar – unbeschreiblich, entsteht die Kunst.

GS: Weil man weiß, daß es geschieht. Wie man es beispielhaft im Ödipus erfahren kann. Gezeigt wird nicht, wie Ödipus mit seiner Mutter schläft und wie er sich blendet, sich die Augen aussticht. Das ereignet sich im Obszönen; geredet wird darüber auf der Bühne.

AA: Das macht auch den Unterschied zwischen Tragödie und Lyrik aus.

GS: Man kann darüber reden, schreiben, man kann es ausdrücken, wenn man es kann.

AA: Und wenn man den Mut dazu hat. Das Verbot zu überschreiten im Unvermögen, führt selbstverständlich zu großen Peinlichkeiten.

GS: D'accord. Die plumpe Frechheit reicht nicht aus.

AA: Gefragt ist die Literatur techne, poiesis.

GS: Genau darauf richtet Fichte im Sappho-Essay sein Hauptaugenmerk. Er zitiert Benn, der ein Gedicht als »einfach und raffiniert« bezeichnete; und Fichte geht dann bei Sappho dem »Raffinement« nach. Man kann ein solches Vorgehen aber als heikel empfinden. Wir sind schon lange keine Griechen mehr; die Deutschen dachten einmal, sie wären Griechen.

AA: Die Griechen waren doch selbst keine Griechen, eigentlich waren sie Barbaren, Griechen nur für eine kurze, sehr kurze Zeit. Und auch sie konnten es – die Literatur konnte es – nur in günstigen Augenblicken. Literatur gelingt nur ganz selten, die Gesamtausgaben beweisen es, sie enthalten eine Unzahl an gescheiterten Versuchen. Wir sollten den Philologen – beispielsweise Petrarca, der nicht nur Poet, sondern auch Philologe war – dankbar sein, daß sie uns das Gelungene überliefert haben.

GS: Zur Not genügen eben »scattered lines«, wie bei Archilochos und Sappho. Das Besondere, was Fichte bei Sappho ausmacht, ist das »konkrete Sprechen«. Fichte bezieht sich hier vor allem auf den griechischen Begriff der »Pathographie«.

AA: Der Niederschlag von Leidenschaft in Sprache – das wäre Pathographie; Leidenschaft, die zu Buche schlägt. Und wir Zeitgenossen drehen uns zu den Alten um, damit wir sehen, was ein Mensch der Zukunft sein könnte. Es gab eine Zeit, in der alles ausgesprochen werden konnte; auch die Sinnlichkeit. Wir versuchen es noch einmal, mag es gelingen oder mißlingen.

GS: Im Jahr 1983 gibt es exquisite Koinzidenzen, also im Jahr, in dem der Saarländische Rundfunk Fichtes Sappho-Essay sendet.

AA: Das stimmt, sei aber bitte vorsichtig. Ich war nicht der SR, der SR war nicht Astel. Huberts letzte Arbeiten waren Zumutungen im besten Sinn. Ich mußte sie eigensinnig im Radio durchsetzen.

GS: Als Nachgeborener ist man dankbar, die Bänder liegen wohlbehütet im Archiv.

AA: Das sind wahre Schätze; und wir sollten einen gewissen Bert Lemmich grüßen, der uns bei unserem Gespräch sehr geholfen hat; als verantwortungsbewußter Archivar.

GS: Und der – das will ich nicht verschweigen – als neugieriger Mensch das Sappho-Band anhörte, um festzustellen, daß er beim ersten Hören kaum etwas verstand. Er mußte das beiliegende Manuskript durchlesen, um der Überfülle an Bildung, an Information einigermaßen Herr zu werden. Besonders gefielen ihm, auch bei anderen Fichte-Sendungen, die kleinen Beigaben, nämlich die Briefe von Fichte an Astel und umgekehrt.

AA: Könnten interessant sein. Aber gerade bei Hubert habe ich mich stets geweigert, nur das zu senden, was ich auf Anhieb verstanden habe. Zumutungen sind doch deshalb notwendig, weil durch sie Interesse geweckt wird, geweckt werden kann. Es macht keinen Sinn, die eigene Unwissenheit, die eigene Beschränktheit zum Maßstab zu nehmen.

GS: Es wäre bedauerlich, wenn schon die erste Begegnung mit Literatur das Ende wäre. Man braucht zuallererst Anregungen, man muß anfangen, etwas zu ahnen.

AA: Und dann selber mehr wollen. Hubert konnte neugierig machen. Später begegnete mir ein ähnliches Phänomen bei Raoul Schrott, im Buch Die Erfindung der Poesie.

GS: Mag Schrott auch ein Windhund sein, für ihn spricht, daß in der Erfindung der Poesie Archilochos und Sappho vorkommen.

AA: Ich bestehe darauf gegen dich, mein Freund, daß Raoul Schrott kein Windhund ist. Wäre er ein Windhund, hätte er kleine Flügel.

GS: Na ja. Zurück ins Jahr 1983. Und zu dem sogenannten neuen Martial, wie Fichte einen gewissen Arnfrid Astel genannt hat. Seinen gleichlautenden Essay schrieb er 1983 nach einem großen Luther-Aufsatz und vor der Sappho-Untersuchung. Du bist eigentlich zwischen Bibel-Übersetzung ins Neuhochdeutsche und griechischsprachiger Pathographie zu beheimaten. Es ist übrigens der einzige Essay, den Fichte über einen zeitgenössischen deutschen Schriftsteller schrieb. Was hat es mit dem Titel Ein neuer Martial auf sich?

AA: Ich kleiner Wicht fühlte und fühle mich noch immer geschmeichelt, seitdem bin ich ein richtiger Flügelwicht, ein Geistchen, ein Windwichtel. Also, es gab eine Redakteurin aus der Reich-Ranicki-Schule, die einen Gedichtband von mir rezensierte und mir bescheinigte, ich sei kein neuer Martial. Worauf ich mit einem kleinen einfachen Epigramm entgegnete: »Kein neuer Martial / sei ich, schreibst du / in deinem Feuilleton. / Kennst du den alten?«

GS: Du kokettiertst bis heute damit, daß du seinerzeit den alten Martial selbst nicht gekannt hast.

AA: Stimmt. Durch Invektiven wird man herausgefordert, der Sache selbst nachzugehen. Im Grunde bin ich Martial nicht ähnlich, außer in der der Aggressivität und Gegenständlichkeit. Wir haben gemeinsam, was vor dem Literarischen liegt, Verlangen und Wut. Ich schulde dem Wiener Franz Schuh die Erkenntnis, daß das Epigramm gar nicht so sehr auf Leser vertraut, sondern vielmehr dazu da ist, einen Keil zwischen Machthaber und Gefolgsleute zu treiben. Es ist dann eine andere Sache, daß Martial gleichfalls ein Panegyriker war und sich als Lobredner bei seinen Förderern einschmeichelte. Man sagt, »parcere personis – dicere de vitiis«, also die Laster benennen, aber die Personen verschweigen. Er wußte genau, warum er die Personen verschwieg. Die Kaiser waren seine Gönner.

GS: Gerade die Kaiser waren Martials Problem. Die große römische Literatur ist von drei Namen bestimmt, Horaz, Ovid, Vergil. Die hatten den Vorteil, daß sie zur Zeit von Augustus lebten, der sehr, sehr lange regierte; und einen umtriebigen Propagandaminister beschäftigen konnte, Maecenas, von dem sich unser Wort »Mäzen« herleitet. Man konnte unter Augustus seine Einschleimversuche planen. Zu Martials Zeiten war diese Sicherheit nicht mehr gegeben, die Kaiser wechselten fast täglich. Hatte Martial ein Buch fertiggestellt und es beim Kopisten abgegeben, mußte er sich Gedanken um die Widmung machen.

AA: Das Schreiben, das Geschriebene konnte lebensgefährlich werden. Martial mußte bei der Abgabe seines Buchs, seiner Huldigung damit rechnen, auf den nachfolgenden Kaiser zu treffen, der seinen Vorgänger erst kürzlich gestürzt hatte, ihn umgebracht hatte. Ich kam in einer öffentlich-rechtlichen Anstalt nie in Versuchung, jemanden zu loben; es fiel mir leider nie jemand ein.

GS: Fichte hat dich mehrmals geehrt. Schon 1976 nahm er von dir sechs unveröffentlichte Epigramme in sein Lesebuch auf; es handelte sich dabei um eine Buchreihe, in der ausgewählte Schriftsteller ihre persönliche Anthologie erstellen durften. Dem Lesebuch ist außerdem ein Text Fichtes vorangestellt, Elf Übertreibungen, sehr polemisch. Geschimpft wird beispielsweise auf die Luther-Bibel, die er anscheinend erst Jahre später studiert hat.

AA: Es schimpft sich leichter über etwas, was man nicht kennt.

GS: Es zeigt sich außerdem, daß Fichte einen Widerwillen hegt gegen alles, was nicht stilisiert und bearbeitet ist. Ein typischer Satz lautet: »Die Geschichte der Deutschen Literatur ist die Geschichte des unvorsichtigen Sprachgebrauchs.«

AA: Sehr überheblich.

GS: Und dann gibt es noch eine Charakterisierung: »So schwul Martials, so martialisch Astels Distichen.« Wenn man dir folgt, stimmt das nicht.

AA: Sei vorsichtig. Man sollte »martialisch« vielleicht nicht auf Martial beziehen, es könnte auch der Kriegsgott Mars gemeint sein. Von diesem leitete sich schon der Name des Martial selbst ab. Ich galt damals, 1976, als aggressiver Schriftsteller. Hätte man die Bücher aufmerksamer gelesen, hätte man gemerkt, daß ich eigentlich ein Softie war.

GS: Na, du warst der Stichwortgeber der APO und der Marschierer durch die Institutionen … Doch jetzt bitte eine kleine Unterweisung zu Martial.

AA: Keine »scattered lines«; es sind fünfzehn Bücher erhalten. Epigramme gemäß der alten Definition, Aufschriften, auf Gegenstände oder zu Gegenständen oder zu Ereignissen; auf Personen und auf Verhältnisse. Es handelt sich sehr oft um Begleitgedichte zu Geschenken, jemand verschenkt einen geschlachteten Hasen und schreibt dazu vier Zeilen, zwei Distichen.

GS: Es war witzig, als ich beim Lesen auf solch ein Gedicht als Beigabe traf. Das Gedicht bezog sich auf eine Ohrensonde. Wem es im Ohr juckte, der konnte eine Ohrensonde kaufen, mitsamt Martial-Epigramm.

AA: Man kann sich das nicht trivial genug vorstellen; aber eigentlich ist es nicht trivial, sondern gegenständlich.

GS: Es gab außerdem die Möglichkeit, Epigramme lediglich als Klebebilder zu kaufen.

AA: Vor der großen Literatur gibt es die kleine Literatur, die leider nicht angemessen gewürdigt wird. Auf ein Geschenk folgen zwei Distichen, eine besondere Art von Höflichkeit. Ein ganzes Buch, es können sogar zwei Bücher sein, handelt bei Martial von diesen Sachen.

GS: Xenia und Apophoreta, ergänze ich als Besserwisser. Und dann gibt es zwölf Bücher mit Epigrammen in unserem modernen Verständnis. Martial wollte, nach eigener Aussage, bewußt nicht kunstvoll dichten und schrieb deshalb Epigramme; die nicht immer kurz sind. Er schrieb epigrammatisch gegen das Epische an.

AA: Das Epigramm ist eine Kurzform der Elegie; der Wechsel von Hexameter und Pentameter ist das elegische Versmaß. Als Aufschrift hält das Epigramm eine Sache, einen Sachverhalt fest, bewahrt dadurch die Erinnerung daran. Wenn beispielsweise irgendein Kaiser auf die unglaubliche Idee kam, im Amphitheater eine Seeschlacht stattfinden zu lassen.

GS: Du sprichst jetzt das Buch der Schauspiele an, das der eigentlichen Epigrammsammlung vorangeht, De spectaculis liber. Wahrscheinlich das grausamste Stück Literatur, das uns von den Klassikern überliefert wurde. Es geht nicht nur um die Schilderung von Seeschlachten, sondern um mehr, »quidquid fama canit, praestat arena tibi«. Die Arena stellt das vor Augen, was einst gesungen wurde in den alten Gesängen. Mythen werden neu inszeniert, dargestellt wird etwa, wie ein Stier Pasiphaë bespringt.

AA: Ich kann mir vorstellen, daß das Volk dabei grölt.

GS: Das Buch der Schauspiele sollte man keinem Verantwortlichen des Privatfernsehens zeigen.

AA: Mittlerweile auch keinem Unterhaltungschef bei den Öffentlich-Rechtlichen. Bereits Martial hat solche Aufführungen nicht kritisiert, er hat sie gelobt, weil der dem Kaiser schmeicheln wollte. Das Volk rebellierte erst, wenn an den schattenspendenden Sonnensegeln gespart wurde, man wollte beim Zuschauen nicht in der prallen Sonne sitzen.

GS: Im Astel-Martial-Essay bezieht sich Fichte auf griechische Ausdrücke, die überraschend wirken. So spricht er davon, daß deine Epigramme eher durch Logopoeia wirken als durch Phanopoeia. Diese Begriffe traten schon in den Elf Übertreibungen auf. Als »Kriterien der Sprache und des Denkens« wurden hier Logopoeia, Phanopoeia und Melopoeia gefordert, sonst seien Sprache und Denken selbst gefährdet, »und damit menschliche und menschenwürdige Existenz«.

AA: Hm, ich versuche jetzt, mir selbst ein Bild von den Begriffen zu machen. Logopoeia wäre sozusagen das Dialektische, das Gedankliche, das zu Worten führt. Phanopoeia wäre die Faszination durch die Phänomene, die Erscheinungen. Das ist mein Verständnis, ich gebrauche diese Begriffe nicht. Und Melopoeia wäre dann der Wohllaut, der in der Dichtung eine große Rolle spielt. Die Poesie leistet keine Überzeugung, sie verführt, sie betreibt Verlockungen durch die Melodie, die Sprachmelodie. Unter philosophischem Gesichtspunkt ist ein solches Vorgehen sehr fragwürdig, deshalb wollte Plato die Dichter aus dem Staat vertreiben. Dichtung ist eine Verführungskunst; es gelingt, das, was ungereimt ist, zu reimen. Der Reim kommt auch in der Antike vor, nicht als Endreim, sondern als Binnenreim. Und der Binnenreim hängt mit der Melodie zusammen und der Singbarkeit, der Wiederholung der Laute, dem Wohllaut in der Lautfolge. Dichterisch verführt man zu einem Gedanken. Es ist eine läppische Nettigkeit, davon auszugehen, daß das Denken selbst zur Erkenntnis führe. Gefragt ist die Verlockung, der verlockende Gedanke. Oder anders ausgedrückt das Mitreißende des Irrtums. Der mitreißende Irrtum der Vorsokratiker – das ist Poesie. Wenn heute Poesie irgend etwas taugt, dann kommt sie den Vorsokratikern nahe. Durch Verlockungskraft, Verführungskraft, durch Melodie und Sprachklang, und durch Wortsetzung; durch die Zeile, die wohlgesetzte Zeile.

GS: Aha. Fichte hätte bei deiner Konfession andauernd genickt, er hat sich selbst als Vorsokratiker verstanden.

AA: Auch die Ethnologie ist eigentlich vorsokratisch, sie forscht den Irrtümern der Aborigines nach. Und dies sind Irrtümer lediglich unter dem Aspekt der Aufklärung. Aber Irrtümer haben mit menschlichem Denken mehr zu tun als die Aufklärung, wichtig war die Aufklärung als Aggression gegen Klerus und Aristokratie.

GS: Die Vorsokratiker wirken bis heute wegen der genannten Kriterien Logopoeia, Phanopoeia und Melopoeia. Fichte hat sie Ezra Pound entlehnt, man sollte einmal selbst nachschlagen.

AA: Pound ist nicht nur der Verfasser der Cantos, über deren Gelingen man verschiedener Meinung sein kann; weil es überhaupt nicht gelingen kann. Er hat außerdem wunderbare, wundersame kleine Gedichte geschrieben, In a Station of the Metro: »The apparition of these faces in the crowd: / Petals on a wet, black bough.« Großartig.

GS: Ein beeindruckendes Beispiel für das, was Pound unter Phanopoeia versteht; ein Wahrnehmungsbild noch einmal hervorzurufen in der Literatur.

AA: Ein Bild, eine Erscheinung festhalten – das ist eine Epiphanie. Poesie hat mit Phänomenen zu tun, sie nimmt wahr mit den Sinnen.

GS: Noch einmal zurück zu den Anmerkungen Fichtes. Es wird dir zugestanden, sehr belesen zu sein.

AA: Eigentlich bin ich nicht belesen. Ich bin kein Gelehrter, aber ich habe das Verlangen nach Wissen. Und deshalb greife ich zu anderen Büchern, wobei sich seinerzeit Huberts und meine Lesepfade gelegentlich kreuzten.

GS: Besonders angetan ist Fichte davon, daß du die Anthologia Graeca strukturieren kannst.

AA: Dazu kann ich etwas sagen. Ich habe sie für mich selbst strukturiert, mühsam auf Karteikarten den Inhalt der einzelnen Bücher notiert. Man kann das, wenn man sie gelesen hat. Ich habe mich also sozusagen strukturalistisch damit beschäftigt. Und als ich erfahren habe, daß Hubert sich mit der Anthologia Graeca abmüht, habe ich ihm freundlicherweise eine Kopie geschickt. Mehr war nicht.

GS: So sterben Mythen der Rezeption.

AA: So sind die Mythen selbst.

GS: Würdest du Fichtes Aussage zustimmen, daß alle deine Epigramme Gedankenlyrik seien, »viel Logopoeia – wenig Phanopoeia«? Fichte schrieb immer »Phaenopoeia«.

AA: Gedankenlyrik, hm; stimmt Gott sei Dank nicht. Hubert bezog sich größtenteils auf das dicke Buch bei Zweitausendeins, Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir. Es war damals eine gelenkte Rezeption; von mir, ein wenig opportunistisch, politisch gelenkt. Politische Gedichte sind normalerweise keine Erscheinungsgedichte. Dazu ließe sich noch einiges sagen.

GS: Ab und zu widerspricht sich Fichte bei seinen Astel-Diagnosen; du bist eben ein vielseitiger Schriftsteller. Unerwähnt soll jedoch nicht bleiben, daß du, folgt man Fichte, »verheerend« den »Neuen Menschen« singst, »den Medienmenschen«; das hat er bereits 1983 geschrieben.

AA: Viele meiner dialektischen Gedichte beziehen sich auf die Medien, ich war ja Literaturredakteur.

GS: Es gebe dann außerdem »alternative Epigramme und erotische«, »verkrampfter beide als beim Schmeichler aus Rom«.

AA: Ich bin bis heute der Meinung, daß ich und meine Gedichte nicht verkrampft sind.

GS: Hierzu wäre eine merkwürdige Tatsache nachzutragen. Der Essay wurde seinerzeit von Fichte im Sender Freies Berlin vorgelesen, wobei einige Stellen weggekürzt worden waren, die sogenannten obszönen Passagen; beispielsweise Martials und Astels Entsprechungen in der Skatologie, wie Fichte es nennt. Diese Stellen, die im Originalmanuskript stehen, fehlen in der Werkausgabe der Geschichte der Empfindlichkeit, im entsprechenden Essay-Band.

AA: Das ist eine große Schande; bedauerlich vielleicht nur wegen der fehlenden Epigramme Martials.

GS: Fichte betont vor allem dein Geschick, in Epigrammen eine »Geologie der Moderne« zu entwerfen. Und er hätte im Vorabdruck Verweilen der Wellen auf dem Pflasterstein von 1981 Phanopoeia am Werk sehen können.

AA: Die Phänomene interessieren mich bis heute viel mehr als die Literatur. Die Literatur interessiert mich, wenn sie neben den Phänomenen bestehen kann. Wenn sie wahrgenommen werden kann wie ein Gegenstand, wenn sie eine lapidare Inkarnation ist.

GS: Zu Beginn erwähnt Fichte deine prägende Zeit, die Zeit in Heidelberg; ein bemerkenswerter Ort, ein literarischer Ort.

AA: Ich bin von der Landschaft beeinflußt; und von einem Freund, einem Lehrer, meinem Lehrer Andreas Rasp.

GS: Der einen berühmten Vater hat.

AA: Nämlich Fritz Rasp.

GS: Den Hauptdarsteller in Fritz Langs Metropolis.

AA: Von Andreas Rasp erfuhr ich schon in den fünfziger Jahren, wer Hopkins und Kavafis waren. Wir trafen uns einmal in der Woche, um über Gedichte zu sprechen. Das waren Sternstunden. Damals habe ich meine Empfindlichkeit für Literatur ausgebildet, damals war ich brillant. Und begann damit, die Lyrischen Hefte herauszugeben.

GS: Als Heidelberg-Neophyt wirst du später Autor eines Verlages, der in seinem Namen anspielt auf ein großes Buch der Deutschen.

AA: Auf eine Sammlung Achim von Arnims und Clemens Brentanos. Mit dem Titel Des Knaben Wunderhorn, der dem Wunderhorn Verlag seinen Namen gab.

GS: Man wollte einmal die blaue Blume der Romantik rot färben, das hat sich geändert … Ich war übrigens einmal dabei, als Michael Buselmeier behauptete, das beste Buch bei Wunderhorn sei noch immer der Sperber von Maheux, ein ethnographischer Roman Jean Carrières über den Untergang bäuerlicher Lebensformen in den Cevennen; Carrière ist ein Schüler Jean Gionos. Lothar Baier schrieb vor einigen Jahren, Carrière erinnere sich, daß, als er Sekretär bei Giono gewesen sei, ein junger Deutscher im Nachbardorf Montjustin die Schafe gehütet habe. Und dieser junge Deutsche habe Hubert Fichte geheißen.

AA: Hubert kannte das, was vor der Literatur liegt. Aber er hat die Schafe in der Provence gehütet, dem Stammland der Troubadour-Dichtung, auf welche Pound immer wieder hingewiesen hat.

GS: Fichte kommt im Essay über dich auf deine Lyrischen Hefte zu sprechen; er lobt vor allem deine Edition von Quirinius Kuhlmann.

AA: Das war ein Sonderheft, die Himmlichen Libes-Küsse. Das erste Gedicht im ersten Heft stammte von Karlheinz Stierle, den wir alle nur Kay nannten. Er wurde dann ein großer Romanist, veröffentlichte vor kurzem ein dickes Buch über Petrarca. Andere Namen wären Bobrowski, Brinkmann, Brodskij, Genazino und so weiter.

GS: Und Wolf Wondratschek, der Jahre später sein Lesebuch, seine persönliche Anthologie, einem gewissen Wolli Köhler widmen sollte. Bei unseren Vorbereitungen haben wir ebenfalls festgestellt, daß im zweiten Heft ein weiterer Fichte-Satellit auftaucht, nämlich Rainer Fabian. Der Mann ist kürzlich wieder ins Gespräch gekommen; er veröffentlichte im letzten Jahr einen Roman, Das Rauschen der Welt, es geht um einen Reporter in Lateinamerika, es ist ein Krimi. Und dieser Rainer Fabian hat 1967, vor Palette und Detlevs Imitationen »Grünspan«, einen lesenswerten Aufsatz geschrieben, innerhalb einer Zeitungsserie über »Künstler in der Werkstatt«, Hubert Fichte – der Vivisekteur. Dem Artikel sind zwei Fotos von Leonore Mau beigegeben. Man sieht das, so heißt es wörtlich, »Sprach-Labor«, Fichtes Arbeitszimmer mit den berühmt-berüchtigten an die Wand genagelten Manuskriptseiten, und das sogenannte »Milieu«, Fichte scheint sich auf Wolfgang Köhlers Pfaden herumzutreiben. Fabian berichtet weiter, daß auf dem Schreibtisch ein Band mit Translations of Ezra Pound liege, ferner ein Sachwörterbuch der Literatur und das erste Blatt eines neuen Romans, des späteren Romans Detlevs Imitationen »Grünspan«. Fichte denke daran, bei der Beschreibung der Bombenangriffe auf Hamburg die Wörter selbst zu zerstören. Im Rückblick beeindruckt die Einschätzung Fabians, »Fichtes Werkstatt« sei das Labor in seinem Kopf.

AA: Ergebnisse dieses Labors ließ ich Hubert dann im Saarländischen Rundfunk lesen, eben Detlevs Imitationen »Grünspan«, bevor der Roman überhaupt erschienen war … Noch kurz zu Ezra Pound. Die Idee des Ideogramms, beispielsweise bei Schilderung der Bombenangriffe die Wörter selbst zu zerstören, hatte Hubert, wie es jetzt deutlich wird, direkt von Pound übernommen.

GS: Zwanzig Jahre nach Fabians Werkstattbericht ist Fichte leider schon tot. Bei dir ist mir ein Foto aufgefallen; es zeigt den Grabstein Fichtes mit einer griechischen Inschrift, mit einem Epigramm.

AA: Das auch in der Anthologia Graeca steht, es ist von Empedokles und bezieht sich auf die Wiedergeburt. Leonore Mau hat mir ein Foto des Grabsteins geschickt, auf dem das Originalzitat steht, ohne Übersetzung und Quellenangabe. Leonore Mau teilte mir mit, daß Hubert Fichte dieses Epigramm in Brasilien auf den Meeresstrand geschrieben hatte, auf den feuchten Teil des Strandes, wo die Wellen auslaufen; er schrieb mit dem Finger. Damals schon hatte ich mich an einer Übersetzung versucht. Und anläßlich unseres Gesprächs habe ich ein kleines Erinnerungsgedicht verfaßt, Epitaph Hubert Fichte, wobei ich Empedokles mit einem Finger schreiben lasse und zusätzlich die Grabschrift ins Spiel bringe: »Wellengebirge / zeichnet und löscht / die Brandung. Am Strand / von Akragas schreibt / Empedokles in den Sand: / Als Mädchen – er schreibt mit dem Finger – / als Fichte und Mann. / Einmal schon / war ich geboren, / Zweig und Vogel und Fisch, / der heiß aus den Wassern / emporschnellt.« – Das für Hubert Eigentümliche, weshalb es auch auf dem Grabstein steht, sind die Worte »korê kai kouros«, Mädchen und Mann; der Gedanke der Wiedergeburt. Er trägt all das in sich und gebiert es aus sich wieder, ideell, in seinen Gedanken und Worten; oder er läßt sich gebären. Der Gedanke der Wiedergeburt ist in Wirklichkeit auch die Vorstellung von der Auferstehung alter Gedanken von Leuten, die nicht mehr leben. Aber sie sind durch ihre Fußspuren und Fingerspuren zu uns gekommen. Die Auferstehung, auch die Literatur, findet in unserem Kopf statt, in unseren Gedanken, in unseren Vorstellungen. Und die Literatur hilft uns dadurch, unsere eigenen Wahrnehmungen zu vergleichen mit dem Vorbild der Menschen, die vor uns gelebt haben.

GS: Jemand, auf den Fichte schlecht zu sprechen war, nämlich Canetti, sah in Schriftstellern die Hüter der Verwandlungen.

AA: Ich gehe noch weiter. Dichter sind die Hüter einer menschlichen Utopie.

GS: Der Inbegriff dieser Utopie ist merkwürdigerweise Fichtes Grabschrift. Er zieht sich durch das ganze Spätwerk. Besonders eindrucksvoll im Forschungsbericht, der in Mittelamerika spielt, wo bereits Olson anthropologische Studien betrieben, frühen menschlichen Spuren nachgeforscht hat. Es fallen auch die Namen von Pierre Verger und Lydia Cabrera, Herodot als erster Ethnograph ist nicht zu vergessen. Aber eigentlich kreist der Roman um eine genaue Übersetzung des Empedokles-Epigramms: »Schon irgendeinmal nämlich war ich Knabe und Mädchen und Baum und Raubvogel und auch aus Salzwasser«; oder so ähnlich. Übersetzend wird eine Entwicklungsgeschichte des Menschen entworfen.

AA: Empedokles war ein Vorsokratiker, es ist einiges von ihm überliefert.

GS: Er hat zwei größere, epische Dichtungen verfaßt, Über die Natur. Und die Reinigungen, was griechisch »katharmoi« heißt, sehr eng verwandt mit Katharsis. Die Reinigungen beschreiben den Weg eines Ich nach dem Sündenfall, nach dem Verlust von Gnade und Grazie. Es findet durch rituelle Praktiken zurück in einen Zustand der Unschuld, zu einer reinen Religion, wobei es einen Inkarnationszyklus durchlaufen muß. Bemerkenswert ist, daß man sich die einzelnen Metamorphosen materiell, materialistisch vorzustellen hat.

AA: Na; alle Wiedergeburten sind irdische Wiedergeburten. Anders ließe es sich nicht verstehen, nicht sehen. Auch wenn man sich, wie Empedokles, in den Ätna stürzt. Die Erinnerung sichern dann die Dichter, von Hölderlin bis Brecht.

GS: Die Grabinschrift ist eine Zumutung. Bis über den Tod hinaus bleibt Hubert Fichte klassisch-antik ausgerichtet. Gegen Lebensende hat er sich wahrscheinlich als Philologe der Alten verstanden, er liebte die Sprache von Archilochos, Sappho und Empedokles. Ich will ein wenig provozieren: Fichtes Klassiker-Interpretationen kommen mir stellenweise ausgesprochen imperialistisch vor.

AA: Nein, das ist mir zu gewaltig. Es handelt sich um Aneignungsversuche, gelegentlich überheblich, snobistisch. Hubert wollte sich absondern von einer Banalität, die ihn geärgert, ihn angewidert hat. Es war durchaus eine Flucht ins Elitäre von jemandem, der einen festen Punkt im Leben finden wollte, indem er einen festen Punkt in der Literatur suchte. Ungebildet fing er an als Schäfer in der Provence.

GS: Fichte begann, im Wortsinn, idyllisch, bukolisch.

AA: Ja, vorliterarisch. Vielleicht wurde er am Lebensende ein wenig dünkelhaft. Er war nicht imperialistisch, aber er zog einen Grenzstrich zwischen sich und jene Bildungsbürger, die sich imperial der Antike näherten. Er verachtete die humanistischen Steißtrommler, die verblödeten Einpauker.

GS: Der Abschlußband von Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit trägt den Titel Hamburg Hauptbahnhof. Register. Er enthält ein langes Interview mit Wolli und Linda von 1982, es ist ein Band über die Wechseljahre des Mannes, eine Exkursion in Zeiten von AIDS und Disketten, in Zeiten von Viren, während die Welt als Buch zu Ende geht. In kurzen Kapiteln wird die Entstehung von Gespenstern beschrieben, von Monstren, die als quälende Nachbilder das ganze Leben bestimmen. Die »Schwierigkeit der familiären Angelegenheit Jäckis« bestehe darin, »daß er in einer Generation, in einer Person den Hauptteil der Sagen des klassischen Altertums« durchspielen wolle.

AA: Es ist die Antwort eines Machtlosen. Hubert nutzte die Antike als Bündnispartner, auch gegen den Literaturbetrieb.

GS: Wobei Fichte gegen Ende von seinem anfänglichen Charme verlor, wenn er verbissen die Klassiker zu eng interpretierte, zu einseitig.

AA: Das ist sein gutes Recht. Und wenn ich mich an die letzten Telefongespräche erinnere, habe ich ihn in sehr guter Erinnerung, er war witzig, ab und an sarkastisch. Er war ein Verzweifelter, ein Sterbender. Seine Provokationen können doch den Wusch auslösen, selbst nachzuschlagen, die Alten selbst zu lesen.

GS: Selber mehr zu wollen.

AA: Ja. Hubert konnte neugierig machen. Der Sog dessen, was man nicht verstanden hat, das Unverstandene, Unbeschreibliche, Unveröffentlichte, übt eine Faszination aus.

GS: Es gibt nicht nur das Leben und die Literatur, es existiert außerdem eine exquisite Dialektik. Nicht nur die Literatur kann auf das Leben zurückschlagen, sondern auch das Leben kann auf die Literatur zurückschlagen, kann sich in Literatur niederschlagen. 1985, im März, erschien eine Sondernummer des Schreibhefts zu Fichtes fünfzigstem Geburtstag, mit dem besagten Aufsatz von dir über Archilochos. Genau zu dieser Zeit ist dir etwas zugestoßen.

AA: Ja. Mein Sohn Hans hat sich im März 85 umgebracht.

GS: Wo hast du dich, als die Nachricht eintraf, zum ersten Mal aufgehalten?

AA: Peinlicherweise in Delphi.

GS: Delphi ist die Kultstätte des Apollo, des Schutzgottes von Archilochos.

AA: Apollo konnte nicht nur die Harfe spielen, er war auch ein treffsicherer Todesschütze. Apollo als Todesgott ist eine interessante Sache. Der materiale Transfer hängt mit dem Bogen und der Lyra zusammen; und mit dem Laut, den die Spannung, das Gespannte von sich gibt. Tod und Musik haben bei Apollo den gleichen Ursprung, es geht bei ihm um die Treffsicherheit von Pfeil und Gesang. Wie bei der Jagd, »à la chasse«. Literatur ist kein harmloses Spiel, wenn man sie ernst nimmt.

GS: Seit 1985 betrauerst du in Epigrammen den Tod deines Sohnes; du hast sogar, als Erinnerung, seinen Vornamen in deinen Namen aufgenommen, Hans Arnfrid Astel. Es gibt noch einen prägenden Menschen.

AA: Meinen Vater, der sich ebenfalls umbrachte. Er hat sich 1945 erschossen, als die Front schon sehr nahe stand. Er war ein sogenannter Rassehygieniker, Professor der Vererbungslehre, Freund der Enkel Ernst Haeckels, Rektor der Universität Jena. Das ist natürlich mein lebenslanges Trauma. Ich sehe in seinem Leben und Tod eine ungeheure Tragödie. Als Sohn habe ich zuerst Biologie studiert, und dann Literatur. Das war meine Art der Trauer, es war keine Abrechnung.

GS: Wer hat 1945 den Leichnam deines Vaters in Jena identifiziert?

AA: Sein Nachfolger als Rektor, Max Bense.

GS: In Detlevs Imitationen »Grünspan« gibt es am Ende einen Abgesang auf alle Hoffnungen der sechziger Jahre. Alles wird verabschiedet, sogar das klassische Griechenland, es ist das Griechenland-Bild Goethes, einzig Marcel Proust bleibt ausgenommen. Und ein zukünftiges Unternehmen, nämlich die Suche nach einer Theorie der Empfindsamkeit; damals hieß es noch Empfindsamkeit, nicht Empfindlichkeit. Die Ernüchterung findet ihren Höhepunkt in einer doppelten Verneinung, »Keine ›Keine Anrufung des großen Bären‹ mehr«. Angespielt wird nicht – oder nicht nur – auf Ingeborg Bachmanns Gedichtband Anrufung des großen Bären, sondern auf den Text Teile von Max Bense. 1960 veröffentlichte Paul Wunderlich Lithographien über die Schrecken des Dritten Reiches mit dem Titel 20. Juli 1944. Benses Einführung fing mit den Worten »Keine Anrufung des großen Bären« an und schloß mit der Erkenntnis, »wenn der Mensch zerstört wird, kehrt erst mit der Verwesung das Menschliche zurück«. Bense selbst versuchte, Gefahren mythischen Denkens dadurch zu bannen, daß er in der Antimetaphysik der Informationstheorie seine Zuflucht suchte. Und als Fichte Benses Verneinung noch einmal steigerte, gab er schon 1969, in Detlevs Imitationen »Grünspan«, seine kommende Entwicklung preis. Es wird um die Reinigung von Körper und Seele gehen; Fichte hätte später griechische Wörter vorgezogen. Soma, Psyche, Katharsis.

AA: Wir haben über Elementares geredet, auch über Tragödien in meinem Leben. Ich will eigenmächtig unser Gespräch mit einem Epigramm beschließen; es steht auf dem Grab meines Sohnes Hans: »Mit silbernem Pfeil / hat dich Apoll erschossen. / Nun klagt er sein Leid / der schwarzen Drossel.« – In Delphi gibt es einen Teller, auf dem Apollo einer Krähe ein Trankopfer darbringt. Die Krähe ist die Metamorphose seiner ehemaligen Geliebten, sie hat sich in eine Krähe verwandelt, nachdem der Gott sie aus Eifersucht getötet hat. Klein ist sie als mahnende Erinnerung auf dem Teller zu sehen. Man kann jetzt vielleicht das Epigramm noch einmal lesen.

GS: Vielleicht nicht nur das Epigramm.